Forschung
Forschungsgeschichte
Den Plan, in Myus auszugraben, hatte Theodor Wiegand zusammen mit seinem Co-Reisestipendiaten und Kollegen Hans Schrader offenbar während der Priene-Grabung (1895–1899) gefasst. Bei Sonntagsausflügen ins Mäandertal in den Jahren 1896 bis 1899 hatten die beiden Archäologen, wie aus ihren Korrespondenzen hervorgeht, in Myus archaische Architekturfragmente entdeckt. Am 12. Oktober 1908 erhielten die Berliner Museen von Osman Hamdi Bey, dem Direktor des Archäologischen Museums in Konstantinopel, die Grabungsgenehmigung. Theodor Wiegand, damals Leiter der Ausgrabungen in Milet und Didyma, begann drei Tage später eine dreißigtägige Grabungskampagne vom 15. Oktober bis 20. November 1908 in Myus. Neben Hunderten von Bruchstücken der Marmorsäulen eines archaischen Tempels wurden in einem ›Spoliengraben‹ marmorne Fragmente eines archaischen Frieses mit der Darstellung eines Wagenrennens gefunden. »Mit eigener Hand habe ich ein Bruchstück eines archaischen höchst feinen Reliefs ausgegraben mit zwei Pferdeköpfen. Es war da also ein Wagenlenkerrelief und auch andere kleine Reste sind gesammelt. … Es kommt wohl nicht viel zusammen, aber das kleine kapitale Stück Pferdeköpfe lohnt schon die ganze Unternehmung.«, schreibt Wiegand begeistert in einem Brief an Hans Schrader am 22. Oktober 1908, dem achten Tag seiner Grabungskampagne (s. G. Wiegand, Halbmond im letzten Viertel [München 1985] 119). Die Friesfragmente wie die Säulenfragmente wies Wiegand dem archaischen Marmortempel des 6. Jhs. v. Chr. auf der unteren der beiden Tempelterrassen, dem sog. unteren Tempel, zu, der sich möglicherweise mit dem offenbar einzigen in Myus in der römischen Kaiserzeit noch sichtbaren Bau, dem von Pausanias (7, 2, 11) überlieferten Tempel des Dionysos, gleichsetzen lässt. Die rund vierzig Fragmente des Frieses aus Myus wurden 1908 durch Fundteilung mit der Hohen Pforte in Konstantinopel von den Königlichen Museen zu Berlin erworben. Heute werden sie im Magazin der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, aufbewahrt. Bei zwei Grabungen in Myus im August/September 1964 und 1966 unter Leitung von Hans Weber, die der Dokumentation der Topographie des Tempelhügels und der Tempelgrundrisse galten, kamen drei weitere große und wenige kleine Fragmente des Frieses zu Tage. Weber gelang es, den Grundriss des unteren Tempels, eines Peripteros mit 6 × 10 Säulen und Abmessungen von ca. 17,20 × 29,80 m, trotz der stark ausgeraubten Fundamente in groben Zügen zu klären.
Eine erste vorläufige, kursorische Publikation von fünfunddreißig Fragmenten des sog. Myus-Frieses legte Carl Blümel, Direktor der Antikensammlung, 1963 in seinem Katalogband zu den archaischen griechischen Skulpturen der Berliner Museen auf eineinhalb Seiten mit Fotografien von fünfzehn signifikanten Stücken sowie älteren plastischen und neuen zeichnerischen Rekonstruktionsvorschlägen von vier Wagengespannen vor. Blümel setzt den Fries ungefähr um die Mitte des 6. Jhs. v. Chr. an. Sowohl die plastischen Rekonstruktionen eines nach links und eines nach rechts fahrenden Gespannes als auch die drei unter Anleitung von Blümel entstandenen graphischen Rekonstruktionsvorschläge mit eingepassten Gipsabgüssen von Originalfragmenten des Myus-Frieses waren im 20. Jahrhundert im Pergamonmuseum ausgestellt. Einen ersten mit zahlreichen Fotos ausgestatteten, ausführlicheren Katalog sämtlicher Fragmente des Myus-Frieses in den Magazinen der Antikensammlung, der in der Datenbank »Arachne« zugänglich ist, verfasste dann 2017 Volker Kästner, Kustos an der Antikensammlung, im Rahmen des »Berliner Skulpturennetzwerkes«. Kästner legte knappe prägnante Katalogeinträge und eine anschauliche zusammenfassende Beschreibung des Frieses vor, machte ausführliche Angaben zu Herkunft und Inventaren sowie kurze Angaben zu Maßen, Material, Technik, Erhaltung, Ergänzungen und Literatur, gab einen Datierungsvorschlag und stellte Überlegungen zu Interpretation und Rezeption an.
Auf der Grundlage der von Hans Weber 1965 und 1967 vorgestellten Architekturfragmente des unteren Tempels in Myus ging Burkhard Wesenberg in seiner 1971 veröffentlichten Arbeit »Kapitelle und Basen« auf die ephesischen Säulenbasen des Tempels ein sowie Werner Kirchhoff 1988 in seiner Dissertation auf die ionischen Volutenkapitelle. Erst 2002 legte Berthold Weber die in der Berliner Antikensammlung aufbewahrten Säulenfragmente des Myus-Tempels in einem mit Fotos und Zeichnungen illustrierten Katalog vor, rekonstruierte extrem überlängte Säulen und sprach sich für eine Entstehung des Baus um 560 v. Chr. aus.
Forschungsziele
Ziel des Publikationsprojekts »Der archaische Wagenrennen-Fries des unteren Tempels von Myus/ Ionien in der Antikensammlung zu Berlin – Befund, Deutung, Kontext und Rekonstruktion« ist es, zum einen den in zahlreichen Fragmenten überkommenen archaischen Fries aus Myus – ein Jahrhundert nach seiner Auffindung – der Forschung in einer befundbasierten Materialvorlage möglichst umfassend zugänglich zu machen und dem Leser und Betrachter dieses Pionierwerk der archaischen ionischen Bauplastik in einem detaillierten Katalog und einer ausführlichen Beschreibung sowie in aussagekräftigen Zeichnungen und professionellen Fotos anschaulich vorzustellen.
Zum anderen wird der Myus-Fries im Vergleich mit Darstellungen von Wagenrennen in der Bauplastik, auf Sarkophagen, in der Wandmalerei, auf Vasen etc. typologisch und ikonographisch eingehend untersucht sowie stilistisch und chronologisch eingeordnet werden. Darüber hinaus sollen auf dieser Grundlage Vorschläge für die Deutung des Wagenrennen-Frieses am unteren Tempel in Myus erarbeitet und diskutiert werden – mit einem besonderen Augenmerk auf der lokalen Konzentration von Wagenrennen-Darstellungen in Westkleinasien und vor allem an ionischen Sakralbauten archaischer Zeit.
Ein weiteres Anliegen ist es, anhand der aus Variationen der Friesdarstellungen sowie technischen Beobachtungen an den Friesblöcken gewonnenen Indizien zum Wagenrennen-Fries – auf der Grundlage der signifikanten publizierten Daten zur Architektur des unteren Tempels in Myus – einen befundbasierten Rekonstruktionsvorschlag für die ursprüngliche Anbringung der großformatigen marmornen Friesblöcke am Bau vorzulegen, der sich vor dem Hintergrund der anhaltenden Kontroverse zu Herleitung, Entstehung und Anbringungsort des ionischen Frieses zudem auf gesicherte Befunde von Figurenfriesen an archaischen ionischen Tempeln der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. stützen kann.
Ein besonderes Augenmerk wird darüber hinaus der zeichnerischen Rekonstruktion des vergleichsweise gut erhaltenen Frieses gelten, von dessen ursprünglicher Fläche fast fünf Quadratmeter überkommen sind. Schon die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass die Friesfragmente das Potential bieten, auf Basis der detaillierten Zeichnungen der Fragmente wenigstens dreizehn der Friesblöcke in großen Partien zuverlässig zu rekonstruieren und so einen relativ beträchtlichen Teil des Frieses für die Forschung wiederzugewinnen und visuell wiederherzustellen. Diese befundbasierten Rekonstruktionen könnten darüber hinaus die Grundlage bilden für eine künftige Präsentation des Wagenrennen-Frieses aus Myus in der neuen Ausstellung des Pergamonmuseums zu Berlin, in der mit einer Rekonstruktion einer Säule des unteren Tempels in Myus auch der architektonische Kontext des Wagenrennen-Frieses präsentiert sein wird.
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