Das Heiligtum der Athena Kranaia

© DAI + Zentrale // Stefan Biernath

Forschung

Stand der bisherigen Forschungen

Der Tempel der Athena Kranaia gehört zu einem extraurban gelegenen Heiligtum der phokischen Stadt Elateia. Es befindet sich ca. 3,5 km östlich von ihr auf einem 640 m hohen Felsplateau im Kallidromo-Gebirge in Griechenland. Seine Lage und Beschaffenheit waren lange Zeit unklar, bis Anfang des 19. Jahrhunderts E.A. Dodwell das Heiligtum wiederentdeckte und dokumentierte. Seither kam es zu ausschließlich zwei Grabungsprojekten:

Im November 1883 startete die erste Ausgrabung im Auftrag der l'École Française unter der Leitung von P. Paris. Dieser stieß unterhalb der byzantinischen Überbauung auf die antiken Baureste des Tempels. Aufgedeckt wurde auf der Südseite des Tempels eine Reihe des Stylobats mit acht Säulenresten, davon fünf in situ, zusammen mit Teilen des Tempelfundaments. Anhand dieser Funde rekonstruiert er den Tempel als dorischen Peripteros mit 6 x 13 Säulen auf einer Fläche von 11.5 x 27.5 Metern. Paris entdeckte außerdem zwei Kapitelle unterschiedlicher Ausführung. Seine Vermutung ist, dass nur eines zum Tempel gehörte, welches ihm zur Rekonstruktion der Fassade diente. Das zweite rechnet er der Portikus zu, deren Fundamentreste nur wenige Meter südlich des Tempels aufgedeckt wurden. Der Fokus der Grabung lag jedoch ausschließlich auf der schnellen Freilegung und grundlegenden Dokumentation der Tempelruine im nordöstlichen Teil des Temenos

Doch auch nach der Ausgrabung durch Paris findet das Heiligtum kaum Aufmerksamkeit in der Forschung. Zu einer weiteren Ausgrabung kam es erst über 100 Jahre später. In den Jahren 2000 und 2001 wurden von G.A. Zachos und S.P. Dimaki mehrere Suchschnitte auf dem Felsplateau angelegt, überwiegend im Bereich der Lagerplätze, auf denen Paris die von ihm geborgenen Bauteile abgelegt hatte. Der Versuch bisherige Befunde aufzuarbeiten und neue Ergebnisse mit denen von Paris in Einklang zu bringen gelingt nur schwer. Forschungen, welche das Heiligtum in seiner Gesamtheit untersuchten und umfangreiche Fragen zur Architektur- und Nutzungsgeschichte des Heiligtums als Gesamtanlage beantworten könnten, blieben also bislang ein Desiderat. 

Mit dem Beginn des Kooperationsprojekts „Topographische Forschungen im Kephissostal“ des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen und der Ephorie von Phthiotsi und Eurytania wurde zunächst im Herbst 2018 mit Mitteln der Fritz-Thyssen Stiftung eine Überfliegung des mittleren Kephissostals unternommen. Mit LiDAR-Scans konnten auf dem gesamten Gebiet anthropogene Anomalien entdeckt werden, unter anderem auch umfangreiche, bislang unbekannte Strukturen in direkter Umgebung des Tempels der Athena Kranaia innerhalb seiner Temenosmauer. Im Kontext des Projekts, das die Umgebung des Heiligtums erfasst, soll dieses Dissertationvorhaben die bekannten, aber auch noch unerforschten architektonischen Strukturen erfassen und auswerten.

Zielsetzungen und Forschungsfragen

Differenzierte Konstruktions- und Ausführungsarten der Stützmauern deuten auf verschiedene Bauphasen hin, welche im Abgleich mit umliegenden antiken Architekturen datiert werden können. Erste Ergebnisse stellen schon jetzt Paris’ Rekonstruktionsversuche in Frage. 

Es ist offensichtlich, dass auch die bekannten Strukturen noch lange nicht alle Erkenntnisse offen gelegt haben. Das Ziel der Dissertation soll sein, den bisherigen Schwerpunkt auf die Funde des Tempels deutlich zu weiten und das Heiligtum als Ganzes zu betrachten. Es gilt, alle baulichen Reste des Heiligtums zu untersuchen und in einen gemeinsamen Kontext zu setzen. Durch die neuen Funde und deren Auswertung soll die räumliche Bebauungsstruktur des Heiligtums in der jeweiligen Epoche geklärt werden. Insbesondere die folgenden Fragen sind zu beantworten:

Wann wurde das Felsplateau zum ersten Mal bebaut? Welche (Um-) Bauphasen durchlief es?

Handelt es sich bei den noch nicht untersuchten Strukturen um die Überreste der Gebäude aus dem 2. Jh. n. Chr., welche Pausanias beschrieb?

Welche städtebaulichen und kultischen Zusammenhänge gab es innerhalb des Temenos?

Mit welchen Konstruktionsprinzipien wurde das Heiligtum erbaut? Wie positioniert sich das Heiligtum innerhalb der Phokis un des antiken Griechenlands hinsichtlich baukonstruktiver Prinzipen?

Gab es eine temporäre Zwischenlösung für den angenommenen zerstörten archaischen Tempelbau bis zum Wiederaufbau?

Kann die Rekonstruktion des erhaltenen Tempels durch P. Paris anhand neuer Baubefunde neu gedacht werden?

Welche Nutzungsphasen gab es? Wann begannen und wann endeten diese?

Welche Form der Nutzung erfuhr das Heiligtum in der Spätantike?

Die zu schaffenden Erkenntnisse sollen dabei helfen, das Heiligtum vor allem in einem baugeschichtlichen Kontext über die Antike hinaus, aber auch in der Kulttopographie der Phokis zu verorten.

Methodik

Um die offenen Fragen beantworten zu können, steht an erster Stelle die umfangreichen Bauforschung vor Ort. 

Nach der Reinigung der bekannten und der Freilegung aller noch unbekannten Strukturen, wurden in situ befindliche Baureste durch eine Bauaufnahme der Genauigkeitsstufe III im Maßstab 1:50 dokumentiert. Der Maßstab eignet sich für die Darstellung der Gesamtanlage in ihrem städtebaulichen Kontext und wurde durch Detailaufnahmen von wichtigen Befunden im Maßstab 1:20 ergänzt. Die Bauaufnahme erfolgte mit Hilfe der Tachymetrie und der 3D-Photogrammetrie (Structure from Motion). Aus den Messdaten wurden maßstäbliche Orthomosaike generiert, die als Grundlage für detailreiche händische Zeichnungen dienten. Die so entstandene händische Bauaufnahme wurde in einem nächsten Schritt mit einem Grafiktablet für die Weiterverarbeitung der Pläne, unter anderem für Bauphasenpläne etc., digitalisiert bzw. vektorisiert.
Ergänzend zur Bauaufnahme wurde ein Mauerbuch angelegt, in welchem alle Baubefunde, Hinweise auf die Art der Konstruktion, auf Erbauung oder Umbau der aufgehenden architektonischen Strukturen festgehalten sind. Relevante Bauteile werden digital im Maßstab 1:2 oder 1:5 in einem Katalog erfasst und können später für eine mögliche Rekonstruktion dienen. Alle Befunde und Arbeitsschritte sind durch Fotografien dokumentiert.

Zu untersuchen sind nicht nur das Heiligtum selbst und seine bisherigen Forschungen, sondern auch Vergleichsobjekte mit kultischen und architektonischen Zusammenhängen

Aus der Erhebung all dieser Daten soll schließlich die Beantwortung der gestellten Forschungsfragen resultieren und ein möglichst exaktes Bild des Heiligtums in seiner Architektur, aber auch in seiner Nutzungsgeschichte entstehen.