Überblick
Die antike Siedlung des Kom el-Gir liegt im nordwestlichen Nildelta, etwa 30 km südlich der modernen Mittelmeerküste und etwa 20 km südlich des Burullus-Sees, der Teil eines der Küste vorgelagerten Lagunengürtels ist. Der Ort befindet sich etwa 4 km nordöstlich von Buto (Tell el-Fara’in). Das Nildelta ist heute wie in der Antike wichtiger Wirtschafts- und Siedlungsraum Ägyptens, doch hat sich die Gestalt der Landschaft und die Besiedlung grundlegend geändert. Die Region war in der ptolemäisch-römischen Zeit (4. Jh. v. Chr.–7. Jh. n. Chr.) von zahlreichen kleineren Nilarmen durchzogen, an deren Ufern Siedlungen gegründet wurden. Heute sind die natürlichen Wasserstraßen verschwunden und die Landschaft ist durch künstlich angelegte Kanäle geprägt, die der Bewässerung der intensiven Landwirtschaft dienen. Durch einen archäologischen Survey wurde deutlich, dass diese Region wohl erst im Laufe des 1. Jt. v. Chr. auf breiter Basis besiedelt wurde. Dieser Prozess der Erschließung und Besiedlung erlebte in römischer und spätrömischer Zeit (1. Jh. v. Chr.–7. Jh. n. Chr.) seinen Höhepunkt. Der Ort Kom el-Gir steht stellvertretend für diese dynamische Entwicklung, die offenbar in frühislamischer Zeit deutlich abflachte. In der Neuzeit nahm das nördliche Delta lange eine Randlage ein, deren intensive Nutzung erst ab dem frühen 20. Jh. einsetzte. Aufgrund der vergleichsweise dünnen modernen Besiedlung liegen uns aus dieser Region überdurchschnittlich viele frei stehende und gut erhaltene antike Siedlungshügel vor, die aber die archäologische Forschung bisher nicht behandelte. Mit dem Kom el-Gir soll ein solcher Fundplatz exemplarisch untersucht werden.
Projektbericht
Die Siedlung des Kom el-Gir wurde, nach momentanem Wissensstand, in ptolemäischer Zeit gegründet (4.–1. Jh. v. Chr.) und bestand bis in die spätrömische oder frühislamische Zeit (7.–9. Jh. n. Chr.). Über die regionale Besiedlung vor der ptolemäischen Zeit ist weitaus weniger bekannt; sie war mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich spärlicher. Während sich an der Oberfläche des Kom el-Gir, wie an beinahe allen antiken Siedlungshügel dieser Region, keine aufragenden Monumente befinden, konnte die Siedlungsstruktur durch Prospektion erfasst werden: Es sind dies neben Wohnhäusern auch ein Tempelgeviert und ein spätrömisches Kastell. Der Name Kom el-Gir („Kalksteinhügel“) verweist jedoch auf den ehemaligen Bestand an Steinarchitektur. Mit der Erschließung der Randzone des Norddeltas ab ptolemäischer Zeit (spätes 4. Jh. v. Chr.) wurde ein bedeutender neuer Wirtschaft- und Siedlungsraum Ägyptens gewonnen, der bis in die spätrömische Zeit (4. Jh.–7. Jh. n. Chr.) florierte. Bisher ist über das Leben in der Antike in diesem Teil Ägyptens aber kaum etwas bekannt. Weil keine schriftlichen Dokumente aus dem Delta in dieser Zeit überliefert sind, ist es Aufgabe der Archäologie, grundlegende Einblicke in die Lebens- und Wirtschaftsweise dieser Region zu geben. Der Kom el-Gir stellt dafür eine sehr gut geeignete Fallstudie dar, da der Siedlungshügel nicht überbaut ist und bisher von massiven Störungen verschont blieb. Es ist somit möglich, auf der Ebene einzelner Wohnhäuser Einblicke in die Lebensweisen dieser Region zu gewinnen. Das ptolemäische und römische Ägypten war geprägt von einer religiösen und ethnischen Vielfalt, deren Untersuchung man sich hier im Kontext einer ländlichen Siedlung des Deltas nähern kann. Die in der Siedlung errichteten Monumentalgebäude eines Tempels und eines Kastells werfen Fragen der Koexistenz und der Konflikte unterschiedlicher Gruppen, staatlicher Ebenen und Interessen auf. Dem gegenüber steht die Frage imperialer Strategien, Neuland zu erschließen und zum größtmöglichen wirtschaftlichen Gewinn zu nutzen. Durch die Rekonstruktion der antiken Landschaft, vor allem der antiken Wasserstraßen unmittelbar um die Siedlung, kann ein Verständnis für die Umwelt, ihre Veränderungen und die Einbettung der Siedlung darin gewonnen werden.
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