Forschung
Der Projektteil zu Tithorea baut auf Vermessungs- und Baudokumentationsarbeiten des DAI Athen in Kooperation mit der 14. Ephorie (Lamia) im Zeitraum 2016-2019 auf, bei denen Kartierung, Bauforschung und Testsondagen zur Stadtmauer bereits einen Schwerpunkt bildeten. Die Untersuchungen wurden im Anschluß in das über 2019 hinausreichende, landschaftsräumlich größere Projekt "Topographische Forschungen im Kephissostal" (Leitung: K. Sporn) integriert. Zur Stadtbefestigung und Topographie von Orchomenos wurden 2021-2023 neue Feldforschungen durchgeführt (mit freundlicher Genehmigung der Ephorie für Altertümer Böotien) und sind jetzt abgeschlossen. Grundlage des neu erarbeiteten topographischen Gesamtplanes zu Stadt und Befestigung sind die Vermessungsarbeiten und Forschungen des DAI Athen in Orchomenos unter der Leitung von K. Fittschen (1997-2000). ergänzend wurde 2022/2023 eine Bauaufnahme am hellenistischen Gipfelkastell des Stadtmauerrings durchgeführt, die von S. Brill (OTH Regensburg) im Rahmen einer M.A.Thesis ausgewertet wird (in Vorbereitung).
Mit den Befestigungsbauten ist ein Monumenttyp zum Thema gemacht, der wie kaum ein zweiter unmittelbarsten Aufschluss über die städtebaulichen Veränderungen griechischer Poliszentren im 4. Jh. v. Chr. und in frühhellenistischer Zeit verspricht – und damit seitens der archäologischen Feldforschung ein wichtiges Korrelat zu den historischen Schriftzeugnissen bietet.
Für beide Stadtmauern soll mit Blick auf die nicht unproblematische bisherige Diskussionsgrundlage im Projektrahmen primär erstmals Grundlagendokumentation geschaffen werden: den Baubestand adäquat vorzulegen und dabei in seinen Bauphasenabfolgen zu differenzieren. Befestigung, Stadtraum und Stadtgesellschaft bedingen in vielfältigen Aspekten einander unmittelbar. Insofern ist mit der Dokumentation und Einordnung der Befestigungen zugleich auch ein Beitrag zur gesamturbanistischen Entwicklung von Tithorea und Orchomenos angestrebt. Die Fallstudien können damit einen Beitrag leisten, die in der neueren Forschung viel diskutierte Frage urbaner Entwicklungsschübe bzw. -zäsuren in der Region Phokis/Böotien in spätklassisch-hellenistischer Zeit auf neue Grundlagen zu stellen.
Als Leitthema wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Baugeschichte der Befestigungsanlagen von Tithorea und Orchomenos die politisch-militärisch überaus bewegte Geschichte beider Städte und ihrer Region in spätklassisch-frühhellenistischer Zeit spiegelt. Im Verlauf des 4. Jhs. v. Chr. – als einer Epoche allgemein vielfältiger dynamischer Veränderungen der griechischen Stadtkultur – wurden in den zentralgriechischen Landschaften Phokis und Böotien ausweislich der historischen Quellen eine Reihe von Städten, darunter Tithorea und Orchomenos, von mehreren einschneidenden politisch-militärischen Zäsuren (Eroberung/Demilitarisierung; Besatzungsphasen, Entvölkerung, Neubesiedlung und politischer Neuanfang) geprägt, die vermutungsweise auch in Neubau- bzw. Ausbaumomenten und eventuell auch fassbaren Zerstörungsmomenten der (in beiden Fällen sehr gut erhaltenen) Befestigungsbauten ihren Niederschlag gefunden haben dürften. Das Schicksal der phokischen Städte im Kephissostal (wie Tithorea) und des von Orchomenos dominierten, nordwestlichen Böotien war in dieser Epoche in wechselnden Freund-Feind-Konstellationen vielfach untrennbar miteinander verbunden; insofern können die Kontextbedingungen in mancher Hinsicht unter gemeinsamen Vorzeichen erfolgen.
Die Diskussion, ob und wie die in der Region zahlreich erhaltenen Befestigungsbauten mit den historischen Ereignissen korreliert werden können, ist bis heute anhaltend kontrovers geführt. In Tithorea wird der große Stadtmauerring in der Forschung bislang einmütig der Epoche Mitte-Ende des 4. Jhs. v. Chr. zugewiesen, wobei je nach dem präferierten näheren Zeitansatz freilich sehr unterschiedliche historische Kontextszenarien des Mauerbaus diskutiert werden. In Orchomenos wird bislang das imposante Gipfelkastell vergleichbar in diesen Zeitraum datiert, der städtische Mauerring bislang dagegen kontrovers eingeordnet. Die grundsätzliche Problematik der i. d. R. viele Bauphasen und -zustände umfassenden Baugeschichte von Befestigungen ist mangels adäquater Dokumentationsgrundlage in beiden Fällen bislang noch kaum thematisiert.
Für die siedlungsgeschichtlichen Zusammenhänge sind daher neben der Hauptbauphase auch frühere und spätere Bauphasen bedeutsam. Auf Grundlage des Befundbildes sind weiterhin auch in beiden Fällen Funktion und Bedeutung von Zitadellen und diachteichismata zu thematisieren. Ein zentrales Thema der aktuellen Forschungsdiskussion ist weiterhin insbesondere auch die Frage von Zuschreibungen einzelner Monumente zu ganzen regionalen Befestigungsbauprogrammen konkurrierender politischer Mächte, die sich in vermeintlich einheitlicher (handwerklicher und/oder konzeptueller) ‚Handschrift‘ niedergeschlagen hätten.
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