Neue Untersuchungen zur `Kultkeramik´ im Heraion von Samos

Archaische Festkeramik aus dem Heraion von Samos © DAI Athen // Jan-Marc Henke

Forschung

Während der nun seit über einem Jahrhundert andauernden archäologischen Forschungen im Heraion von Samos lag der Fokus primär auf der baulichen Entwicklung des Heiligtums sowie einzelnen Objektgattungen. Eine übergreifende Betrachtung und Auswertung aller verfügbaren Grabungskontexte blieb bisher aus. Das Habilitationsprojekt von Jan-Marc Henke zur Entwicklung des Heraions von Samos und des Kultes vom 8. bis zum 6. Jh. v. Chr. widmet sich diesem Desiderat. Die hier skizzierte Studie ist ein Teilaspekt dieser Arbeit, die im Rahmen des Auslandsstipendiums durchgeführt wird.

Wie in zahlreichen anderen Heiligtümern bestreitet die an den Kultfesten verwendete Keramik auch im Heraion von Samos den Hauptanteil des archäologischen Fundmaterials. Ihre chronologische und typologische Ordnung ist vor allem von Andreas Furtwängler in den maßgeblichen Zügen herausgearbeitet worden. Ein darüber hinaus gehendes feineres Entwicklungsmodell sowie eine auf die Werkstätten und den Kultbetrieb bezogene Betrachtung des Gesamtbestandes dieser Gattung und ihrer Kontexte ist im Heraion aber neben wenigen spezifischen Aspekten bisher nicht verfolgt oder vorgelegt worden.

Ausgehend von den Ergebnissen der neuen Grabungen östlich der Altäre zwischen 2010 und 2013, betrachtet das Projekt die Gattung und ihre Kontexte unter folgenden Aspekten:

I. Produktionstechnische Unterschiede und deren Interpretation

Die häufige Wiederholung gleicher Produktionsschritte mit der freien Hand, wie z. B. das Modellieren von Gefäßkörpern, das Zusammensetzen von Einzelteilen oder das Auftragen von Firnis, führt zur Ausbildung stereotyper Handbewegungen, die ins motorische Gedächtnis des Handwerkers eingehen und von dort beim erneuten Ausüben der Tätigkeit unterbewusst wieder abgerufen werden. Dieses führt bei den verschiedenen Handwerkern zu individuellen, nur von der entsprechenden Person reproduzierten Formverläufen am Gefäßkörper. Daneben gibt es aber auch bewusst vom Töpfer durchgeführte Griffe, Praktiken und Modellierungen, die er auf Grund individuell empfundener Praktikabilität, Ästhetik, aber auch auf Grund werkstattspezifischer Traditionen oder allgemeiner Vorgaben anwendet. In der Regel resultiert das fertige Produkt aus einer Mischung aller dieser Elemente. Je umfassender die Vorgaben desto unauffälliger werden allerdings die individuellen Merkmale. Sie verschwinden aber selten völlig. Gerade im Falle von umfangreicheren Produktionen geringerer Qualität bleibt mehr Spielraum für das Herausbilden und Reproduzieren solcher Individualismen.

In einem ersten Schritt untersucht das Projekt die an den Kultfesten im Heraion verwendete undekorierte Keramik auf solche Besonderheiten. Ziel ist gegebenenfalls die Definition von Produktionschargen, also die Gruppenbildung von Gefäßen, die auf Grund ihrer hohen Ähnlichkeit in der Modellierung, im Firnisauftrag, des Tones oder der Brennqualität zu einem gemeinsamen Zeitpunkt in derselben Werkstatt oder gar vom selben Handwerker hergestellt worden sein könnten.

Anschließend werden die herausgearbeiteten Charakteristika zwischen den unterschiedlichen Gefäßtypen und -formen auf Gemeinsamkeiten hin untersucht, was zu einer klareren Beschreibung handwerker- und werkstattbezogener Produktionsspektren beitragen soll. Am Ende verspricht sich diese Untersuchung u. a. Einblicke in konkrete Produktionsabläufe und die Organisation der Werkstätten.

Ziel ist ferner eine verfeinerte relativ- und absolutchronologische Ordnung sowie ein detaillierteres Entwicklungsmodell zu einzelnen Gefäßformen.

II. Zeitliche und räumliche Verteilung der Produktionsgruppen im Heiligtum und deren Aussagewert zur Chronologie, Funktion und Formentwicklung der an den Kultfesten im Heraion verwendeten Keramik sowie zur Heiligtumsorganisation und zum Kultbetrieb

Der zweite Schwerpunkt des Forschungsprojektes untersucht die räumliche Verteilung der definierten Produktionsgruppen und Typen innerhalb des archäologischen Fundmaterials aus den verschiedenen Heiligtumsarealen.

Ziel ist u. a. die relativ- und absolutchronologische Einordnung des gewonnenen Entwicklungsmodells. Ferner untersucht das Projekt das quantitative Verhältnis der einzelnen Gefäßformen zwischen den unterschiedlichen Fundkontexten zueinander. Dadurch sollen deutliche Relationsverschiebungen in verschiedenen Heiligtumsarealen, besonders aber zwischen verschiedenen Kontexten (vor allem Bothroi, Gruben, Flächendeponien) aufgezeigt werden. Unter Umständen erlauben die sich abzeichnenden Relationsverhältnisse und Verteilungsmuster von Gefäßformen neben weiteren Interpretationsmöglichkeiten eine Diskussion zur funktionalen Organisation des Temenosgebietes während der Kultfeierlichkeiten sowie deren Genese. So könnten abweichende Mengenverhältnisse von Gefäßformen zwischen den einzelnen Flächendeponien in verschiedenen Heiligtumsbereichen u. a. darauf hindeuten, dass Abfälle von Kultmahlzeiten, wenn überhaupt, an mehreren Stellen im Heiligtum und nicht an einem einzigen Ort gesammelt und auch unmittelbar in der Nähe ihres Sammelpunktes ausplaniert wurden. So könnte auch ein Großteil der an diesen `Sammelpunkten´ gelagerten Keramik in unmittelbarer Nähe angefallen sein. Ein schwankendes Verhältnis der Gefäßformen würde dann neben weiteren Interpretationsmöglichkeiten auf unterschiedliche Funktionsbereiche der Temenosareale während der Kultfeiern hindeuten.

Des Weiteren wird die Frage nach der spezifischen Verwendung einzelner Gefäßformen im Kult gestellt und ob sich auf Grundlage mehrerer voneinander abweichender Gefäßensemble in verschiedenen Kontexten Indizien für unterschiedliche Kultpraktiken oder unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen an Kultteilnehmern finden lassen.

III. Das Beziehungsverhältnis der Töpferwerkstätten zur Heiligtumsorganisation und zum Kultbetrieb

Andreas Furtwängler betonte eine langsam um die Wende vom 7. zum 6. Jh. v. Chr. einsetzende Formvereinheitlichung innerhalb der Keramikproduktion, z. B. bei den Knickrandschalen, sowie die deutlichere Trennung von Fein- und Gebrauchskeramik auf Samos. Während dieses `Standardisierungsprozesses´ bildete sich schrittweise eine heiligtumsspezifische `Kultkeramik´ heraus.

Das Projekt stellt die Frage, ob wirklich nur letztere Keramik mit der Idee einer spezifischen Produktion für das Heiligtum zu verbinden ist. So wird auch untersucht, ob nicht bereits früher eine Bevorzugung bestimmter Produktionen für die Verwendung bei den Kultfesten beobachtet werden kann, selbst wenn es sich hierbei um Typen handelt, die auch außerhalb des Heiligtums Verwendung fanden und inwieweit diese Produktionen bei der Herausbildung der spezifischen `Kultkeramik´ Pate gestanden haben. So besitzen die heiligtumsspezifischen Halbfirnistassen über einen längeren Zeitraum im späten 7. Jh. bisher kein auf gleiche typologisch eindeutige Weise identifizierbares Pendant innerhalb der anderen Gefäßformen (z. B. den Knickrandschalen), was erklärungsbedürftig ist. Erst durch das Auftragen der Hera-Dipinti werden diese Gefäßformen gelegentlich für uns erst als besondere Produktion für das Heiligtum erkennbar.

Die Herausbildung einer spezifischen für die Kultfeste bestimmten Keramik führte in der Forschung gelegentlich zu der Frage nach an das Heiligtum angeschlossenen Werkstätten, also einer `Monopolisierung´, für die bisher keine eindeutigen archäologischen Beweise vorliegen. Indem die produktionstechnischen Untersuchungen die vermeintlichen Standardisierungsprozesse und Spezialisierungen dezidierter für die Forschung nachvollziehbar machen, tragen sie entscheidend zur Klärung dieser These bei und schaffen eine allgemeine Diskussionsgrundlage für ein breiteres wissenschaftliches Publikum als bisher.

So weit wie möglich soll mit der Bestimmung des Fassungsvermögens und der Maße der Gefäße sowie möglicher Portionierungsgeräte (z. B. Schöpfkellen) geprüft werden, ob etwaige vom Heiligtum vorgegebene Maßeinheiten bereits von der Gefäßproduktion reflektiert worden sein und bei der Vereinheitlichung eine Rolle gespielt haben könnten, was bereits Richard Eilmann 1933 vermutete.

Heraion von Samos, Bothros in M11 (ca. 600 v. Chr.), Halbfirnistassen K 13432 und K 13434 mit identischer Modellierung des Bodens und identischem Duktus des Firnisauftrages © DAI Athen // Foto: Jan-Marc Henke, Bearbeitung: Julia Engelhardt
Heraion von Samos, Wasserbecken in O13 (ca. 590 v. Chr.), Halbfirnistassen K 13617 und K 13619 mit identischer Modellierung des Bodens und identischem Duktus des Firnisauftrages © DAI Athen // Foto: Jan-Marc Henke, Bearbeitung: Julia Engelhardt
Verteilungsmuster_von_Gefaessformen_im_Heraion_von_Samos_J-M_Henke_DAI_Athen
In den unterschiedlichen Fundkontexten im Heraion (7. bis frühes 6. Jh. v. Chr.) quantitativ dominierende Gefäßormen © DAI Athen // Jan-Marc Henke
D-DAI-ATH-ARCHIV-GA-SAM-2021-00072_J-M_Henke_DAI_Athen
Archaische Festkeramik aus dem Heraion von Samos © DAI Athen // Jan-Marc Henke