Heraion von Samos

Heraion von Samos, Dipteros II © DAI Athen // Stefan Biernath

Forschung

Herodot: (Her. III 60, Übers. A. Horneffer)

„Ich habe so ausführlich über Samos berichtet, weil die Samier die gewaltigsten Bauwerke geschaffen haben, die sich in ganz Hellas befinden. Erstens haben sie durch einen einhundertfünfzig Klafter hohen Berg einen Tunnel gebohrt, der am Fuße des Berges beginnt und nach beiden Seiten Mündungen hat. Dieser Tunnel ist sieben Stadien lang und acht Fuß hoch und breit. Unter diesem Tunnel ist seiner ganzen Länge nach ein zweiter, zwanzig Ellen tiefer und drei Fuß breiter Tunnel gegraben. Durch diesen letzteren wird aus einer großen Quelle das Wasser in Röhren in die Stadt geleitet. Diese Wasserleitungsanlage wurde gebaut von Eupalinos, Sohn des Naustrophos aus Megara. Das zweite Werk ist ein Wellenbrecher in der See, der den Hafen einschließt, einhundertzwanzig Fuß tief und mehr als zwölfhundert Fuß lang. Das dritte Bauwerk der Samier ist der Tempel, welcher der größte aller Tempel ist, die wir kennen. Sein erster Baumeister war Rhoikos, Sohn des Philes aus Samos.“

Es waren unter anderem diese Worte Herodots, bzw. der damit bereits für das 6. Jh. v. Chr. von ihm bezeugten Bauwerke, die schon früh das Interesse erster neuzeitlicher Forschungsreisender und schließlich der modernen Altertumswissenschaften an der antiken Stadt Samos und dem zugehörigen ca. 6 Kilometer entfernt liegenden Heiligtum der Hera, der Hauptgottheit der Insel, weckten.

Im Heraion fanden bereits seit 1702 mehrere kleinere Untersuchungen des Tempels durch Joseph Pitton de Tournefort, die Londoner Society of Dilettanti, Victor Guérin, Carl Humann, Paul Girard oder de Clerc statt. Erste systematische Grabungen unternahm 1902–1903 die Archäologische Gesellschaft Athen unter Leitung von Panagiotis Kavvadias und Themistokles Sophoulis, die kleinere Bereiche des Tempels und des östlichen Vorplatzes sondierten. Erst mit Aufnahme archäologischer Grabungen durch die Königlichen Museen Berlin unter Theodor Wiegand von 1910–1914 wurden großräumig Ländereien angeworben und weite Teile des Temenos einschließlich des gesamten monumentalen Tempels des 6. Jhs. v. Chr. von fast 6000 m² Grundfläche freigelegt.

1925 nahm Ernst Buschor für die Athener Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts die Grabungen wieder auf, in deren Verantwortung sie mit einer Unterbrechung während des zweiten Weltkrieges seit nun schon fast 100 Jahren mit umfangreicher Unterstützung des lokalen Denkmalamtes und des Ministeriums für Kultur und Sport liegen.

Ernst Buschor sondierte im Wesentlichen in den bereits von Wiegand freigelegten Bereichen des zentralen Heiligtums in die Tiefe und deckte damit die Frühphasen der Stätte vor dem 6. Jh. v. Chr. auf. Im Zweiten Weltkrieg gingen wesentliche Teile der Dokumentation und die kontextbezogene Fundordnung in den Magazinen im Heraion verloren. Nach Wiederaufnahme der Grabungen 1952 sollten diese Verluste durch Nachgrabungen möglichst ausgeglichen werden, die weitestgehend von Hans Walter mit Hilfe der Architektin Angelika Clemente ausgeführt wurden.

Nach dem Tode von Ernst Buschor 1961 ging die Leitung auf Ernst Homann-Wedeking und nach ihm 1976 auf Helmut Kyrieleis über. Die Grabungen verfolgten weiterhin Fragestellungen zum frühen Temenos, wobei vor allem in den fundreichen Deponien mit Heiligtumsabfällen des 7. und frühen 6. Jhs. v. Chr. im Südtemenos, aber auch zur Ausdehnung und Topographie des archaischen Heiligtums im Nord- und Nordosttemenos sondiert wurde. Dabei stieß die Grabung unter Kyrieleis, der das Grabungsgelände durch neue Ankäufe mehrmals erweiterte, 1980/81 unter anderem spektakulär auf den Kouros des Isches, den bisher zweitgrößten Marmorkouros in Griechenland, ein Meisterwerk ostionischer Plastik.

Nach Helmut Kyrieleis konzentrierte sich Hermann Kienast ab 1987 zunächst auf Neuuntersuchungen fast aller wichtigen Bauwerke im Heiligtum, wobei viele offene Fragen geklärt und neue Rekonstruktionen vorgeschlagen werden konnten. Ab 1996 setzte er die Suche nach der Ostgrenze des Heiligtums fort. Neben der Rekonstruktion des archaischen Osttores konnte er nachweisen, dass spätestens ab späthellenistisch/augusteischer Zeit das Temenos noch bis über die aktuellen Grabungsgrenzen hinaus erweitert worden war.

Der nachfolgende Grabungsleiter Wolf-Dietrich Niemeier übernahm die Aufgabe der Überarbeitung und Publikation des Manuskripts des verstorbenen Hans Walter, dessen Grabungen bisher nur lückenhaft in unterschiedlichen kontrovers diskutierten und zum Teil auch widersprüchlichen Vorberichten und Abhandlungen vorgelegt waren. In diesem Zusammenhang initiierte Wolf-Dietrich Niemeier von 2009 bis 2013 neue Grabungen im Altarbereich, die die Chronologie wichtiger Kontexte aus Walters Grabungen und einzelner Materialgruppen konkretisierte, darüber hinaus aber auch wichtige Ergebnisse zum Wesen des Kultes selbst oder Deponierungssitten von Kultabfällen lieferten. Dazu gehörten u. a. auch von Walter nicht verfolgte paläozoologische und paläobotanische Untersuchungen. Bis dahin lagen lediglich entsprechende Studien aus den Grabungen im Südtemenos unter Leitung von Helmut Kyrieleis vor. Neben den Grabungen am Altar fanden in Kooperation mit Ourania Kouka von der Universität Zypern neue Sondierungen in den Schichten der prähistorischen Siedlung im Nordosttemenos statt, die bisher unbekannte mittelbronzezeitliche Siedlungsphasen aufdeckten. Die letzte Auseinandersetzung mit diesem Fundkomplex fand in den 1950er und 60er Jahren durch Vladimir Milojčić und Hans-Peter Isler statt.

Niemeiers Nachfolger Joachim Heiden bezog ab 2014 auch das Umland des Heiligtums in die Forschungen zum Heraion mit ein. Gemeinsam mit der TH Lübeck untersuchte er in dem Kooperationsprojekt »Wasser und Kult im Heraion von Samos« die Hydrologie der Chora-Ebene und explizit im Heraion, dessen wasserbaulichen Einrichtungen diesbezüglich im Fokus standen.

2020 ging die Grabungsleitung auf Jan-Marc Henke über. Neben der fortlaufenden Aufarbeitung älterer Grabungskontexte rücken nun Projekte zum Kultgeschehen im Heraion, den nacharchaischen Phasen des Temenos und weitere umlandsbezogene Projekte in den Fokus. Aktuell führt das DAI gemeinsam mit der CAU Kiel und der Ephorie von Samos und Ikaria ein Projekt zur samiotischen Landnutzungsgeschichte und infrstrukturellen Anbindung des Heiligtums durch, mit dem grundlegende Fragen zur naturräumlich-ökologischen Genese der Region und deren Relevanz für die gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte auf Samos verfolgt werden.

Stichpunktartige Darstellung aktueller Forschungen:

• Erforschung der bedeutenden prähistorischen Siedlung unter dem Hera-Heiligtum

• Erforschung der Ursprünge des Heiligtums

• Erforschung der bislang nicht im Fokus stehenden hellenistischen bis spätantiken Phasen des Heiligtums

• Erforschung des archaischen Kultes und konkreter Kultpraktiken auf Grundlage des gesamten Fundspektrums

• Transferprozesse von Techniken und Kultpraktiken nach Samos

• Naturwissenschaftliche Elementanalysen samischer Tongefäße

• Kontextualisierung des Heiligtums im Umland

• Entwicklung und Nutzung des Umlandes in den letzten 5000 Jahren

• Verlauf der Heiligen Straße zwischen Heiligtum und dem antiken Stadtgebiet

• Aufarbeitung von Altgrabungen und einzelnen Fundgattungen

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Heraion von Samos, Fundamente von Dipteros II © DAI Athen // Stefan Biernath
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Heraion von Samos, Kopie der Gruppe des Bildhauers Geneleos im Archäologischen Gelände © DAI Athen // Jan-Marc Henke
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Heraion von Samos, Rekonstruktion der Nordostante des Altares © DAI Athen // Jan-Marc Henke
D-DAI-ATH-Archiv-GA-SAM-2023-2020
Heraion von Samos, Archäologisches Gelände © DAI Athen // Stefan Biernath
Heraion von Samos, Fundamente der unterschiedlichen Altarphasen aus der Frühzeit des Heiligtums © DAI Athen // Gösta Hellner
Heraion von Samos, Plan der freigelegten Monumente (Stand 2013) © DAI Athen // Thekla Schulz-Brize, Hans Birk
Heraion von Samos, Torso des Kouros des Isches bei der Bergung © DAI Athen // Helmut Kyrieleis
Heraion von Samos, Museum von Vathy, Kouros des Isches © DAI Athen // Elmar Gehnen