Forschung
Ansätze und Methoden
Die archäologsichen Grabungen folgen dem in Italien verbindlichen Methoden der modernen Schichtgrabung. Großflächigere Untersuchungen werden mit Hilfe der Vermessungskunde, der Geophysik und der Geoarchäologie angegangen. Hinzu kommen die in Selinunt bedeutsame Bauforschung, Numismatik und Epigraphik, verstärkt durch naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden (u.a. Archäometrie, Archäozoologie und Paläobotanik). Die Dokumentation der Ergebnisse und Visualisierung in ihrem Kontext erfolgt in einem geographischen Informationssystem (GIS) und iDAI.field 2.0.
Forschungsgeschichte
Die Stadt ist bisher vor allem durch ihre monumentalen dorischen Tempel berühmt. Vom Wohngebiet sind nur kleine Ausschnitte im Bereich der sog. Akropolis, des durch die hellenistischen Festungsmauern umgebenen Südhügels, seit den Grabungen des 19. Jahrhunderts bekannt. Erst durch gezielte Untersuchungen einer 1971 von V. Tusa berufenen Gruppe von Forschern, R. Martin, J. de la Genière und A. Rallo, ist gesichert, dass sich die archaisch-klassische Stadt weit über die heute auf der Akropolis sichtbaren Mauern hinaus ausdehnte. An diese Untersuchungen schlossen sich seit 1971 in enger zusammenarbeit mit der Soprintendenza ai Beni Culturali di Trapani un dem Parco Archeologico di Selinunte, Cave di Cusa e Pantelleria langjährige Forschungen von Dieter Mertens an zur Topographie und zur Agora (1995-2007), die ergänzt wurden durch Projekte von Kooperationspartnern (Marmordach des Tempels A; Lehrstuhl für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege, Technische Universität München). Im Fokus der Forschungsinteressen stand danach bis 2018 die Aufarbeitung der reichhaltigen Funde aus den Agoragrabungen (Henner von Hesberg/Ortwin Dally). In Verbindung damit haben neuerliche Grabungen (2010-2016) der Universität Bonn, Abteilung Klassische Archäologie (Martin Bentz) zur Freilegung einer Insula des Handwerkerviertels (Kerameikos) von Selinunt geführt. Von 2017-2022 konnten die Forschungen auf der Agora fortgeführt werden. Sie führten zur Entdeckung eines mit Gräbern und Tumuli durchsetzten Areal eines Heroenkults (Sophie Helas). Eine durch Grabungen (Clemente Marconi, NYU New York, Università degli Studi di Milano/Ortwin Dally/Linda Adorno) ergänzte Bauaufnahme (Heike Bücherl, BTU Cottbus) der Tempel A und O auf der Akropolis läuft seit 2018. Seit 2021 laufen Arbeiten im gesamten Stadtgebiet zur Entwicklung eines neuen diachronen Stadtmodells in Verbindung mit Sondagen, einem innerstädtischen Survey und geophysikalischen Prospektionen (Melanie Jonasch). In den letzen Jahren wurden insb. in den Bereichen der beiden Flüsse Gorgo Cottone und Modione geoarchäologische Bohrungen durchgefürht zur Klärung der kultur- und landschaftgeschichtlichen Entwicklung sowie der Küstenbildung in unterschiedlichen zeitlichen Horizonten (Marlen Schlöffel und Steffen Schneider, Universität Osnabrück). Jon Albers (Ruhr-Universität Bochum) leitet seit 2019 Grabungen im Osthafen von Selinunt. Ergebnisse der langjährigen Forschungen der Agora konnten kuratiert durch die Humboldt-Universität Berlin (Agnes Henning) im Rahmen einer Ausstellung im Baglio Florio präsentiert werden. Dort ist auch eine Anastylose der Fassade des Tempels Y (Clemens Voigts, ETH Zürich/Dieter Mertens) zu sehen.
Seit dem 19. Jahrhundert stand zunächst die Erforschung der griechischen Stadt Selinunt im Vordergrund des Forschungsinteresses. Beginnend mit den aktuellen Grabungen auf der Agora soll in den kommenden Jahren verstärkt die diachrone Entwicklung der Stadt untersucht werden. Zunächst bedeutete die Einnahme Selinunts durch die Karthager einen erheblichen Einschnitt für die weitere kulturelle Entwicklung der Stadt. In unterschiedlichen Bereichen der Stadt (Wohnbebauung, Agora, Heiligtümer, Häfen, Nekropolen, Umland) soll systematisch der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Form sich die Lebensverhältnisse der griechischen von der punischen Stadt unterschieden haben. Ebenso ist geplant, sich eingehender mit der spätantik/byzantinischen und mittelalterlichen Phase der Stadt auseinanderzusetzen.
Die generellen Forschungsfragen konkretisieren sich in Form von Projekten:
1. Seit 2018 arbeitet das Institut erneut auf der Agora
(Teilprojekt: Der sakrale Raum auf der Selinunter Agora).
2. Von 2020 an laufen archäologische und geoarchäologische Arbeiten, um in Verbindung mit einem neuen Vermessungsnetz ein neues 2,5D-Modell der Stadt in unterschiedlichen zeitlichen Horizonten von der Gründung bis zur Zeit der byzantinischen Vorherrschaft zu entwickeln.
3. Im Rahmen eines Dissertationsvorhabens werden die Tempel A und O (BTU Cottbus in Kooperation mit dem DAI Rom und dem Parco Archeologico di Selinunte e Cave di Cusa) aufgenommen. Die beiden Tempel aus dem mittleren 5. Jh. v. Chr., von denen vermutlich Tempel O nie fertiggestellt wurde, wurden in der Zeit der byzantinischen oder der darauffolgenden arabischen Vorherrschaft in ein Castrum/Ribat integriert. Naben Fragen der Datierung steht die Rekonstruktion der beiden Tempel und des Castrums im Zentrum des Projekts.
4. 2019 hat ein archäologisches und geoarchäologisches Forschungsprojekt im Bereich der Häfen von Selinunt begonnen (koordiniert durch das Archäologische Institut der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bonn, Abteilung Klassische Archäologie in Kooperation mit dem DAI Rom und dem Parco Archeologico di Selinunte e Cave di Cusa). Die Häfen von Selinunt werden schon seit dem 19. Jh. in den beiden Talsenken beidseitig des Siedlungsplateaus der Manuzza vermutet. Neben der topographischen Beschaffenheit des Geländes, führte man dafür vor allem zwei lange, parallele Mauern an, die in jener Zeit im östlichen Tal des Gorgo Cotone sichtbar waren. Neuere geophysikalische Prospektionen der Universität Köln und des DAI Rom (2014/2015) bestätigen diese Annahme und legen den Verdacht nahe, dass zumindest im Osten der Stadt ein tief in das heute verlandete Tal hineinreichendes Hafenbecken existierte. An diese Vorarbeiten ebenso wie an die Freilegung und Dokumentation einer Insula des Kerameikos von Selinunt knüpft das Projekt zum Osthafen von Selinunt unmittelbar an. Ziel des Vorhabens ist der zweifelsfreie Nachweis eines architektonisch ausgestalteten Hafens im östlichen Tal des Gorgo Cotone. Dieser soll sowohl durch feldarchäologische Arbeiten als auch mit Hilfe von geologischen Untersuchungen erstmals bestätigt werden und darüber hinaus weiter Einblicke in die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Selinunts geben.
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