Der Kerameikos in Athen

Die Gräberstraße © Jutta Stroszeck, DAI Kerameikosgrabung // Jutta Stroszeck

Raum & Zeit

Seinen Namen verdankt der Kerameikos den Töpfern (Kerameis), die an den Ufern des Eridanos und entlang der Straßen beiderseits des Flusses über Jahrhunderte hinweg ihre Werkstätten unterhielten. Der Name für die Straße, die durch das Töpferviertel führte, ist schon im 4. Jh. v. Chr. zum Synonym für die Staatsgräberstraße Athens geworden, die sich vor dem Thriasischen Tor (dem späteren Dipylon) erstreckte.

Zu den beiden Toranlagen führten Wege vom Festland, von der Peloponnes und von den Häfen nach Athen. Die Straßen sowie das Umfeld der Tore waren Bereiche intensiver Kommunikation, und es herrschte rege Betriebsamkeit: Händler trafen ein oder brachen mit ihren Waren zu Reisen auf; andere errichteten Stände, auf denen sie ihre Waren anboten; Prozessionen zogen an festgelegten Tagen, kleine Festzüge jederzeit zu den Heiligtümern; Leichenzüge und Frauen, die die Gräber pflegten, waren zur Nekropole unterwegs, und das Militär patrouillierte auf den Stadtmauern.

Das Areal um die Tore war außerdem ein beliebter Treffpunkt von Prostituierten mit ihren Kunden. Im Rahmen dieser Aktivitäten entstanden nahe bei den Toren auch Gasthäuser mit Bordellbetrieb, die im Gelände erhalten sind.

Bild:Dipylon?]

Durch das Heilige Tor führte die Straße zum Mysterienheiligtum der Demeter in Eleusis. Jährlich fanden feierliche Prozessionen zwischen Athen und der etwa 22 km entfernten, uralten Kultstätte statt. Eingeweiht waren die meisten Athener, viele Fremde und sogar Sklaven.

Die Straße, die durch das Dipylon zum Hain des Heros Hekademos führte, in dem im 4. Jh. v. Chr. Platon die berühmte Akademie gründete, war vor dem Tor mehr als 40 m breit. Sie hatte nicht nur als Verkehrsachse, sondern auch als Veranstaltungsort für Athen besondere Bedeutung, denn hier wurden Agone zu Ehren der Toten und kultische Wettläufe (z.B. Fackelläufe) veranstaltet. Am Rand der Straße lagen die schön ausgebauten Staatsgräber der Athener. Diese auf Kosten des Staates errichteten Gräber waren die letzten Ruhestätten von Künstlern und bedeutenden Politikern (z. B. Perikles und Thrasybul), aber auch von den Gefallenen der Stadt Athen und ihren Bundesgenossen. Der junge Ritter Dexileos beispielsweise, für den seine Familie ein prächtiges Denkmal im Kerameikosgelände aufgestellt hat, war zusammen mit seinen gefallenen Mitstreitern in einem dieser Kriegsgräber (Polyandrien) beigesetzt.[Bild:Dexileos]

Zu Beginn des 4. Jhs. v. Chr. entstand zwischen den beiden monumentalen Toranlagen das Pompeion.[Bild:Pompeion] In dem langgestreckten Gebäude mit ionischem Torbau (Propylon), einem säulenumstandenen Hof (Peristyl) und angegliederten, kleineren Banketträumen sammelte sich der Prozessionszug, der anlässlich des Festes der Schutzgottheit der Stadt zum Athenatempel auf der Akropolis zog. Das Gebäude war aber auch ein Gymnasion und eine Ausbildungsstätte für die Epheben (18-20jährige Athener). Der bekannte Philosoph Diogenes machte es zu seiner Philosophenschule. Das Gebäude war mit Wandbildern von Komödiendichtern geschmückt:  erhalten ist die Inschrift für ein Bild des Menander. Außerdem befand sich hier die berühmte Statue des Sokrates, eine auf Bestellung der Athener vom Bildhauer Lysipp gefertigte Bronzestatue.

Einige Epheben nutzten ihren Aufenthalt auf den umlaufenden Sitzbänken unter den schattigen Säulenhallen des Pompeion, um ihre Namen in die Marmorsockel der Wände zu ritzen.[Bild:Menanderinschrift]

Im Kerameikosgelände liegt eine ausgedehnte Nekropole, die bedeutendste Athens, in der die ersten Gräber schon um 2000 v. Chr. angelegt worden sind. Die kontinuierliche Bestattungstätigkeit bis in die römische Zeit liefert ein äußerst vielfältiges Bild der antiken Bestattungssitten in Athen. Das Spektrum umfasst sowohl Körper- als auch Brandbestattungen sowie ausgedehnte Kindernekropolen. Die Kennzeichnung der Gräber erfolgte durch einfache Grabhügel bis hin zu prächtigen marmornen Grabmonumenten mit Inschriften und ehrenden Epigrammen (Versinschriften). Die Ausstattung dieser Grabmale erreichte zeitweise derartige Ausmaße, dass dem Luxus mehrfach durch Gesetze Einhalt geboten werden musste. Ab 317/307 v. Chr. galt in Athen ein Gesetz, durch das die Formen der Grabdenkmäler auf einfache Säulen (Kioniskoi oder Columellen) und rechteckige Marmorblöcke (τράπεζαι) beschränkt worden sind. Noch heute sind hunderte Kioniskoi in ganz Attika verstreut, die von der Durchschlagkraft dieses Gesetzes zeugen..  

Der Flusslauf des Eridanos durchläuft das Kerameikosgelände von Südosten nach Nordwesten. Er ist neben dem Kephissos und dem Ilissos einer von drei großen Flüssen im athenischen Becken. Der Eridanos entspringt am Süd- und Westhang des Lykabettos, durchquert das Stadtzentrum von Athen und mündet im Westen der Stadt in den Ilissos, der bei Phaleron das Meer erreicht. Im Kerameikosareal ist der einzige oberirdisch sichtbare Abschnitt des Flusses erhalten, der bereits seit dem 5. Jh. v. Chr. über weite Strecken kanalisiert ist. Der Fluß verlässt das Stadtgebiet durch das Heilige Tor und verwandelt das Kerameikosgelände in eine grüne Oase mit einer artenreichen Tier- und Pflanzenwelt. Die Erhaltung dieses Biotops mitten in Athen ist – über die archäologische Forschung hinaus – ein Anliegen der Kerameikosgrabung.

Während der Antike stellte die Kerameikos-Straße, die am rechten Ufer des Flusslaufes verläuft, eine direkte Verbindung zwischen der Agora und der Akademie Platons her. Zwar hat die moderne Bebauung diese durchgehende Verkehrsachse zerstört; dies sollte den Athenreisenden jedoch nicht davon abhalten, dem ungefähren Verlauf der Prachtstraße einmal bis zur Akademie zu folgen. Unterwegs wird er auf das heutige Grabungsgelände des Kerameikos treffen und wenige hundert Meter nördlich auf die Staatsgräber für die gefallenen Athener (Polyandrion), an denen Perikles seine berühmte Totenrede gehalten hat.