Das nubische Dorf Bigge

Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße

Forschung

Methodisch verfolgt das Projekt einen dreifachen Ansatz. Im Arbeitsbereich der Bauforschung sollen – anders als in den wenigen und knappen bereits vorliegenden Publikationen zum Thema der nubischen Anonymarchitektur, nicht nur einzelne, aus dem Zusammenhang herausgelöste Haustypen untersucht, sondern die gesamte ...
Dorfstruktur der auf Bigge vorhandenen beiden Weiler erforscht werden. Dazu wird zunächst ein Lageplan der beiden Siedlungen erstellt und dann für sämtliche Gebäude ein Aufmaß erarbeitet. Ein Schwerpunkt der Bauforschung wird auch die Untersuchung der Erbauungszeiten der einzelnen Gebäude sein. Ebenfalls auf die verlassenen Siedlungen als materieller Komplex zielt die archäologisch-ethnoarchäologische Herangehensweise. Mit der Dokumentation der Gebäude werden auch systematisch die anderen Elemente der materiellen Hinterlassenschaft, also die verbliebene Einrichtung und weitere Nutzungsspuren, dokumentiert werden. Diese werden es erlauben, die Funktion von Gebäuden und Räumen zu bestimmen. Entscheidend für das Projekt ist die Verzahnung der bauhistorisch-archäologischen Arbeit mit ethnologischen Untersuchungen. Das für das Forschungsprojekt zur Verfügung stehende, umfangreiche dokumentarische Material von Frau Goo-Grauer aus den 1960er Jahren soll im Rahmen der Studie eingesetzt werden, um im Zusammenhang mit der geplanten Baudokumentation sowohl den Baubestand der 1960er Jahre als auch die damalige Lebenswirklichkeit zu rekonstruieren. Erste Vergleiche des Bildmaterials von Frau Goo-Grauer aus den 1960er Jahren mit aktuellen Aufnahmen (2009/2010) belegen, dass ein Großteil der Bebauung die letzten 50 Jahre überdauert hat. Weiter sollen während des Projektzeitraums ethnologische Befragungen der ehemaligen Bewohner Bigges durchgeführt werden. Diese stellen eine entscheidende Quelle für die Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit in den Dörfern dar. Sie erlauben es, das einstige Nubische Leben vor den Umsiedlungen zu dokumentieren, wie auch den mit den Umsiedlungen einsetzenden Kulturwandel sowohl in architektonischer als auch in ethnologischer Sicht zu beleuchten. Dabei erkennen wir in dem Projekt ebenso eine besondere Chance wie eine besondere, akute Dringlichkeit. Die spezifische Chance ergibt sich daraus, dass die verlassenen Dörfer auf der Insel Bigge im Gegensatz zu anderen, noch bewohnten Dörfern eine hohe Authentizität aufweisen, die wesentlich der natürlichen Abschottung infolge der Insellage geschuldet ist. Hinzu treten die besonderen Glücksumstände, dass auf Bigge außer der Architektur selbst noch zahlreiche andere Spuren der früheren Besiedelung erhalten sind, dass eine ethnographische Dokumentation aus der Besiedlungszeit der Dörfer verfügbar ist und dass Kontakte zu noch lebenden ehemaligen Bewohnern der Dörfer bestehen und weitere geknüpft werden können. Dadurch kann hier eine Dokumentation und Rekonstruktion einzigartiger Dichte geleistet werden. Diese besonders chancenreiche Konstellation bleibt jedoch nicht einfach unbegrenzt bestehen. Der Baubestand ist durch ein signifikant immer feuchter werdendes Klima in Assuan, verbunden mit zunehmend häufiger auftretenden Niederschlägen, akut gefährdet. Auch illegale Raubgrabungen im Innern der Gebäude gefährden den Bestand der archäologischen Situation. Genauso wird es mit verstreichender Zeit immer schwieriger, ehemalige Bewohner Bigges für Interviewzwecke ausfindig zu machen.
Die Erforschung der vernakulären Architektur im östlichen Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel ist bisher in weiten Teilen ein Desiderat – jedenfalls verglichen mit dem hohen Standard der mitteleuropäischen Hausforschung. Diese Lücke bedarf dringend der Schließung. Die ...
anonyme, profane Architektur gibt in jedem Raum ein unverfälschtes Zeugnis einer materiellen Kultur ab, die aus einem Erfahrungsschatz von nicht selten mehreren Jahrhunderten schöpft und stets ein unvergleichliches Beispiel an Nachhaltigkeit und Anpassung an die jeweilige Umwelt bietet. Eine Analyse der Einflüsse ihrer Entwicklung erlaubt es, die regionalen und überregionalen wirtschaftlichen Zusammenhänge aufzudecken sowie die Wahrnehmung und Wertung von architektonischen Symbolen innerhalb eines Kulturkreises zu verstehen. Ziel des Projekts ist es, in einem interdisziplinär angelegten Herangehen durch die Dokumentation und Analyse der beiden aufgelassenen nubischen Dörfer auf Bigge einen Beitrag zur Erforschung, Sicherung und Vergegenwärtigung der traditionellen Kultur der Nubier in Ägypten zu leisten. Der archäologische Zugriff garantiert dabei ein Höchstmaß an Authentizität. In dem Projekt stehen vor allem drei Anliegen im Blick: Es geht darum, durch Nutzung einer einzigartig günstigen Befundlage einen Markstein in der ethnoarchäologisch-ethnologischen Sachdokumentation zu setzen und der Forschung damit Grundlagenmaterial verfügbar zu machen. In dem hier zu dokumentierenden Material ist weiter ein traditionelles Wissen um Technologien und Lebensweisen enthalten, das auch heute und künftig von Wert ist und wertvoll bleiben wird, gerade wo es entscheidend ist, umwelt- und klimaangepaßte, ressourcenschonende Lebensweisen teils zu entwickeln, teils wiederzugewinnen; ein Wissen, das ebenso überall dort von Wert ist, wo es darum geht, historische Orte der Region baulich zu konservieren und zu rekonstruieren. Um diese Ziele zu erreichen, soll der gesamte Baubestand der nubischen Dörfer von Bigge dokumentiert werden. Dabei soll in einer ethnoarchäologischen Perspektive der Aussagewert der Ausstattungsgegenstände und des Hausrats umfassend einbezogen werden. Weiter soll die verfügbare ethnologische Information dokumentiert werden; dazu soll nicht nur der aus früheren Arbeiten vorliegende Datenbestand ausgewertet und mit den Sach- und Baubefunden der verlassenen Siedlungen abgeglichen werden; es sollen auch und vor allem Kontakte zu den früheren Bewohnern der Siedlungen geknüpft und deren Erinnerungswissen zum früheren Leben in den Dörfern erfragt und dokumentiert werden. Als Ergebnisform ist einerseits die wissenschaftliche Publikation im monographischen Format angestrebt; darüber hinaus ist das Ziel jedoch auch eine digitale Präsentation der Ergebnisse. Dabei ist es insbesondere ein Anliegen, auch Veröffentlichungsformate zu wählen, die der lokalen Bevölkerung selbst zugänglich sind.
Die Projektgruppe kann auf umfangreiche Vorarbeiten zurückgreifen. Im Wesentlichen sind folgende Schritte zu nennen. (a) In den Jahren 1961 bis 1964 dokumentierte die Ethnologin Dr. Armgard Goo-Grauer während mehrerer Forschungsaufenthalte in Dörfern Alt-Nubiens die Hausdekorationen unter besonderer Berücksichtigung ...
der Wandmalereien der nubischen Frauen. Während einer sechswöchigen Feldstudie im Jahr 1964 nahm sie am dörflichen Leben der Bewohner von Bigge teil. Aus dieser Zeit stammt umfangreiches dokumentarisches Material. (b) Seit 2009 führt die Abteilung Kairo archäologische Arbeiten auf der Insel Bigge durch. Im Rahmen dieser Arbeiten wurde eine Begehung der gesamten Insel durchgeführt, ein Vermessungsnetz errichtet sowie eine organisatorische Infrastruktur der Arbeit aufgebaut (Transport, Kontakt mit den lokalen Personen, etc.). (c) 2009, 2010 sowie letztens 2013 wurden mehrere Begehungen der Insel durchgeführt. Aus diesen Besuchen stammt umfangreiches digitales Fotomaterial, welches den Zustand des Baubestandes sowie die Besonderheiten der heutigen Inseltopographie zeigt. Im Rahmen dieser Begehungen konnte auch eine Diagnose des Sachstands erarbeitet werden. Die im Januar 2010 erstellte erste Grobkartierung des südlichen Weilers auf Bigge zählt etwa 20, meist einzeln stehende Hauskomplexe, die sich das steile Gelände des Ostufers der Insel heraufziehen und sich in ihrer Binnenstruktur teils stark unterscheiden. Die Bauten wurden größtenteils aus Lehm, teilweise auch aus Bruchstein errichtet und sind durch fehlenden Bauunterhalt dem allmählichen Verfall ausgesetzt. Oftmals sind Wandmalereien innerhalb der einzelnen Häuser sowie große Teile des Interieurs noch vorhanden, so dass die Nutzung der einzelnen Räume in diesen Bereichen noch gut rekonstruierbar ist. (d) Im Rahmen anderweitiger Feldaufenthalte im Raum von Assuan in den Jahren 2008-2013 gelang es Frau Goo-Grauer, einige ihrer früheren Kontaktpersonen unter den Bewohnern von Bigge ausfindig zu machen und den freundschaftlichen Kontakt wieder aufleben zu lassen. Es ist geplant, weitere Kontakte zu reaktivieren, um diese für das Projekt nutzbar zu machen.
Friedhof auf Bigge
Friedhof auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge 1
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge 2
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge 4
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge 5
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße
Überreste nubischer Architektur auf Bigge 6
Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße