Ḫattuša/Boğazköy – Die Hauptstadt des Hethiterreiches

Boğazköy-Ḫattuša: Die Stadtruine von Norden. Rechts liegt Boğazkale. Deutlich sind die von den Flüsse Budaközü (links) und Yazır (rechts) tief eingeschnittenen Täler sichtbar, durch das zentrale Plateau eingefasst wird, auf dem die Stadt liegt. © DAI-IST // Andreas Schachner

Ergebnisse

Die DAI-Forschungsplattform Boğazköy-Hattuša und ihre internationalen Partner konnten seit 2006 u. a. folgende Ergebnisse erzielen:

1) Siedlungsgeschichte

- Untersuchung der chalkolitischen Siedlung Çamlıbel Tarlası und Beschreibung der Subsistenzstrategien, mit denen sich im nördlichen Anatolien die ersten produzierenden Gemeinschaften etablierten.

- Nachweis von zwei Schichten eines kārum in der Unterstadt und einer trotz Zerstörung der jüngeren Schicht ununterbrochenen Besiedlung bis in die hethitische Epoche in allen Bereichen der Unterstadt

- Basierend auf Radiokarbondatierung neues chronologisches Gerüst für die Entwicklung der Altstadt, die nur bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. genutzt wurde.

- Durch geophysikalische Prospektion und anschließende Grabungen Klärung des Verlaufs, der Struktur und der Datierung mehrerer Stadtmauern, so dass die Stadtentwicklung besser verständlich ist.

- Anhand der neuen Datierungen wird der Vergleich zwischen den Siedlungsarealen möglich. Dabei stellt sich heraus, dass sich die Siedlungsschwerpunkte innerhalb des topographisch definierten Raums konstant verschieben und die Stadt nie in dem bisher rekonstruierten Umfang besiedelt war.

- In verschiedenen Bereichen (Tal vor Sarıkale, Oberstadt Westhang, Tempel 8) wird deutlich, dass die Aufsiedlung der Oberstadt bereits in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts begann und länger dauerte als bisher her postuliert.

- In der westlichen Oberstadt können mindestens zwei weitere Tempel nachgewiesen werden.

- Auf der Büyükkale wurden durch neue Grabungen eine bisher unbekannte Bebauung der Eisenzeit sowie erste Reste der Bronzezeit nachgewiesen. Der Grundriss der Palastanlage muss chronologisch und strukturell völlig neu rekonstruiert werden.

- Durch die Grabungen bei Kesikkaya gelang erstmals der Nachweis monumentaler Architektur der mittleren Eisenzeit

- Neue Forschungen führen den Nachweis einer Stadtmauer in der späteren Eisenzeit, die quer über den Büyükkale-Nordwesthang verläuft und deren Errichtung spricht dafür, dass die Siedlung dieser Zeit den Hang hinauf verlegt wurde.

- Bei Kesikkaya und nun auch auf dem mittleren Büyükkale-Nordwesthang wurde zusammenhängende Siedlungsreste der galatische Zeit freigelegt. Eine kleine Festung und ein Herrenhaus, in denen auch Prestigegüter gefunden wurden, sprechen für eine ausgeprägte soziale Hierarchie.

- Die teilweise Aufdeckung eines römischen Militärlagers, einer ausgedehnten Badeanlage und eines Banketthauses an einem großen Wasserbecken schließen nicht nur ein eine Lücke in der Besiedlungsgeschichte sondern zeigen eindrücklich, das Wechselspiel zwischen Einflüssen der  Reichskultur und andauernden lokalen Bestrebungen.

   

2) Mensch-Umwelt-Interaktion

- Die Bedeutung der Geographie für die Wahl des Siedlungsplatzes in verschiedenen Epochen zeigt sich durch eine diachrone Betrachtung

- Die seit Jahrzehnten andauernde Analyse archäobotanische Funde spricht dafür, dass in der Bronze- und Eisenzeit ähnliche Produktionsbedingungen herrschten, die ähnliche Güter und Erntemengen hervorbrachten. Dabei sind in der hethitischen Zeit deutliche Unterschiede zwischen den zentralen staatlichen Großsilos und den Funden in der Siedlung erkennbar, die wichtige Rückschlüsse auf die Wirtschaftsweisen erlauben. 

- Gleichzeitig wird die große Bedeutung der Tierhaltung und Weidewirtschaft für die hethitische Wirtschaft anhand der untersuchten Tierknochen deutlich.

- Geologische und hydrologische Untersuchungen vermitteln einen Eindruck von der Bedeutung die Wasser für die Siedlungen in den verschiedenen Epochen spielte. Besonders bemerkenswert ist der Nachweis, dass die künstlichen Wasserspeicher durch das Anschneiden der Grundwasserspiegel befüllt wurden.

- Gleichzeitig konnten in verschiedenen Bereichen der Grabungen und durch Geländebegehungen katastrophale Umweltereignisse (Sturzfluten) insbesondere in der hethitischen Zeit nachgewiesen werden. Bemerkenswert ist, dass die betroffenen Bereiche teilweise nicht wieder aufgebaut wurden, je nach der sozio-politischen Bedeutung der betroffenen Areale.

- Unerwartet konnte der Nachweis geführt werden, dass Boğazköy unmittelbar auf Verwerfungslinien liegt, die Erdbeben verursachen, die in verschiedensten Siedlungsepochen sichtbar sind.

- Der Nachweis der geologischen Herkunft der hethitischen Werksteine ermöglicht Rückschlüsse auf Bauabläufe und die sozialen Umstände der Errichtung der Monumentalgebäude insbesondere in der Unterstadt

  

3) Städtebau

- Der Übergang von der kārum Zeit zur hethitischen ist im späten 17. Jahrhundert v. Chr. durch eine vollständige Umgestaltung der Siedlung von einer „normalen“ anatolischen zu Stadt zu einer repräsentativen Königsstadt geprägt. Hierdurch wird ein für Anatolien völlig neuer Urbanismus sichtbar. Dieser wird durch die Etablierung der ausschließlich repräsentativen Oberstadt im Laufe des 16. Jahrhunderts v. Chr. noch weiter verstärkt.

- Für die hethitische Zeit wird nun auch in Boğazköy in den neu gestalteten Stadtbereichen eine eher lockere Siedlungsstruktur sichtbar.

- Die Publikation der Monumentalbauten in der Unterstadt eröffnet völlig neue Interpretationsmöglichkeiten für den gesamten Stadtorganismus

- Basierend auf einem wesentlich verfeinerten chronologischen Schema wird sichtbar, dass die Siedlungsentwicklung nicht linear von einem kleinen Nukleus im späten 3. Jahrtausend v. Chr. bis zur größten Ausdehnung im 13. jahrhundert v. Chr. verlief. Vielmehr ist ein Hin-und-Her der Siedlungsschwerpunkte innerhalb des topographisch definierten Raums erkennbar. Die hethitische Stadt umfasst offenbar nie die Fläche, die bisher postuliert wurde. Gleichzeitig bestanden häufig große unbebaute Flächen oder Ruinen innerhalb der Stadtmauern. Insgesamt wird eine sehr dynamische Entwicklung greifbar.

- Neu erkannte und datierte Formen der Stadtbefestigungen tragen wesentlich zu dieser Interpretation bei.

- Grabungen bei Kesikkaya und auf dem mittleren Büyükkale-Nordwesthang verdichten unsere Kenntnisse über die Entwicklung der eisenzeitlichen Stadt, deren Schwerpunkte sich ähnlich wie die der hethitischen in dem geographischen Raum mehrfach verschoben.

  

4) Infrastruktur, Ressourcennutzung, Besiedlungsstruktur

- Umfassende Untersuchungen an Metallobjekten ermöglichen einen detaillierten Überblick über die verwendeten Legierungen in der Bronzezeit und darüber hinaus. Dabei wird deutlich, dass bis in den Bronzezeit von einer relativ lokal organisierten Metallurgie mit zahlreichen verschiedenen Legierungen auszugehen ist.

- Ähnlich können die mit drei verschiedenen Methoden durchgeführten Analysen an Tonen der Keramik interpretiert werden. Mehrheitlich wurde die Keramik in allen Epochen aus sehr lokalen Tonquellen hergestellt. Die Analyse eines Großfundes gesiegelter Tonbullae weist in die gleiche Richtung, so dass eine relativ begrenzte wirtschaftlicher Reichweite rekonstruiert werden kann.

- Einerseits führt die Geologie von Boğazköy dazu, dass hier an vielen Stellen Wasser ganzjährig verfügbar ist und so an diesem Ort eine besonders geeignete Siedlungslage bietet. Andererseits lassen sich insbesondere in hethitischen Schichten Naturkatastrophen erkennen, die die Gefahr des Wassereindrücklich zeigt. In den einzelnen Epochen lassen sich unterschiedliche Strategien im Umgang mit diesem Naturphänomenen rekonstruieren.

- Die stellenweise großflächigen Grabungen ermöglichen in der nördlichen Unterstadt und auf dem Büyükkale-Nordwesthang die Rekonstruktion des Wegenetzes. Dabei wird in der Unterstadt deutlich, wie öffentliche Plätze einerseits als Verteiler vor einem Tor genutzt wurden, und andererseits im Zusammenhang mit einem kultisch genutzten Gebäude standen.

  

5) Epigraphie

- Im Laufe der letzten Jahre ist es gelungen, sämtliche Kleischrifttexte vollständig zu publizieren (Hethitologie Portal Mainz)

- Durch den Einsatz hochauflösender 3D Scantechnologien kann die bisher als nicht lesbar geltende Inschrift von Nişantaşı nun weitestgehend entziffert werden. Die Anwendung der gleichen Techniken in Yazılıkaya führte zu Klärung zahlreicher offener Fragen bzgl. der Inschriften und Bildwerke; so auch zur Entdeckung einer unbekannten Figur.

- Die Entdeckung aufgemalter Inschriften anatolischer Hieroglyphen in der Poterne von Yerkapı eröffnet völlig neue Einblicke in die Nutzung von Schrift als Kommunikationsmittel im öffentlichen Raum.

- Der Einzelfund einer Keilschrifttafel liefert den Nachweis einer neuen indo-europäischen Sprache in der Spätbronzezeit Anatoliens.

  

6) Bestattungen und Nekropolen

- Im Norden der Unterstadt wurde ein umfangreicher Teil einer Nekropole freigelegt, die sich bis zur Poternenmauer erstreckte. Diese bietet exemplarische Einblicke in das harte Leben einer ruralen Gemeinschaft der römischen Kaiserzeit.

Publikationen

Jährliche Vorberichte erscheinen im Archäologischen Anzeiger, in den eForschungsberichten des DAI sowie in den Akten der Kazı Sonuçları Toplanatası sowie der Araştırma Sonuçlari Toplantası.  Die Publikation der Keilschrifttexte erfolgt jährlich digital.

Die monographischen Endberichte der Ausgrabungen erscheinen in der Reihe Boğazköy-Ḫattuša des DAIs.

- A. Schachner, A New Look at an Ancient City: an Outline of the Chronological and Urban Development of the Hittite Capital Ḫattuša, Anatolian Studies (im Druck, 2024)

- A. Schachner, Building for King and Country: Architecture as a Symbol of the Hittite Empire, in: St. de Martino (Hrsg).The Hittites (Berlin 2022) 421‒466

- A. Schachner, Geographical Prerequisites versus Human Behavior: Settlement Geography, Rural Economy and Ideological Aspects of Anthropogenic Relations with the Natural Environment during the 2nd Millennium BC in Central Anatolia, in: St. de Martino (Hrsg).The   Hittites (Berlin 2022) 159‒201

- A. Schachner, Denkmal- und Naturschutz in Boğazköy-Ḫattuša: Ein ganzheitlicher Ansatz, in: K. Steudtner (Hrsg.), „… die Reste noch eindrucksvoller gestalten“ – und erhalten. Erfahrungen aus 150 Jahren archäologischer Denkmalpflege in der Türkei (Berlin 2022) 121‒142

- A. Schachner, Denkmalpflege und Site Management in Boğazköy-Ḫattuša im 21. Jahrhundert: Bewährte Methoden und Neue Aspekte, in: K. Steudtner (Hrsg.), „… die Reste noch eindrucksvoller gestalten“ – und erhalten. Erfahrungen aus 150 Jahren archäologischer   Denkmalpflege in der Türkei (Berlin 2022) 307‒317

- A. Schachner, A Very Long 1st Millennium BC at Bogazköy? Longue Durée versus Changes from the Iron Age the Roman Imperial Period, in: E. Sökmen – A. Schachner (Hrsg.), Understanding Transformations Exploring the Middle Black Sea Region and Northern Central   Anatolia in antiquity (c. 4th/3rd Century BCE –4th/5th Century CE). Symposium Hitit Üniversitesi April 18–20 2018, Byzas 26 (Istanbul 2021) 361–376

- A. Schachner, Hattuşa. Efsanevi Hitit Impartoluğu´nun Izinde (Istanbul 2019)

- A. Schachner, Hattuscha. Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter (München 2011)

- U.-D. Schoop, Çamlıbel Tarlası. Late Chalcolithic Settlement and Economy in the Budaközü Valley (North-Central Anatolia), in: Sh. Steadman, G. MacMahon (Hrsg.), Archaeology of Anatolia I, Recent discoveries (2011-2014) (Newcastle upon Tyne 2015), 46‒68      

- J. Seeher, Ein Tag in Hattuscha / A Day in Hattusha / Hattuşa´da bir Gün (Istanbul 2020)

- J. Seeher, Götter in Stein gehauen / Gods carved in tone / Taşa yontulu Tanrılar (Istanbul 2011)

- Ö. Sümer, M. Drahor et al., Integrated Geoscience Investigations in Hittite Imperial Sites Affected by Earthquakes, in: G. Mohamed el-Qady, C. Margottini (Hrsg),  Sustainable Concervation of UNESCO and other Heritage Sites through proactive Geosciences (Cham 2023)