Zentrum und Peripherie: der Siedlungsraum der Paracas-Kultur (800-200 v. Chr.)

Forschung

Der archäologische Forschungsstand im Einzugsgebiet des Río Grande de Nasca südlich von Ica wird von Helaine Silverman, einer Expertin für die Archäologie der Südküste Perus, im Jahr 1996 folgendermaßen wiedergegeben: „[...] the valleys of the Río Grande de Nazca drainage were essentially outside the Paracas tradition [...]“ (Silverman 1996: 131). Nach Silverman ist die Präsenz von Elementen der Paracas-Kultur in der Nasca-Region auf die Zuwanderungen von Einzelpersonen aus den Tälern von Chincha, Pisco und Ica zurückzuführen. Die Hochlandregionen des Nasca-Gebietes fanden bisher bei archäologischen Forschungen keine Berücksichtigung. Jedoch bereits vor 1996 waren dort in mehreren Einzelstudien zahlreiche Fundplätze mit Keramik aus der späten Paracas-Zeit dokumentiert worden. Auch in den südlichen Zuflusstälern des Río Grande de Nasca wurden zahlreiche Fundorte mit Hinweisen auf eine paracaszeitliche Besiedlung entdeckt. Jedoch wurde aufgrund der geringen Fundmengen an der Oberfläche und der wenigen Fundorte mit eindeutigen Architekturresten aus der Paracas-Zeit der Befund als ein Beleg für eine nur wenig intensive und sehr späte Besiedlung in dieser Zeit interpretiert. Man ging davon aus, dass die Paracas-Kultur ihr Kerngebiet in den Regionen von Ica, Chincha und Pisco hatte und dass sich die Entwicklung der Nasca-Kultur aus der Paracas-Kultur nicht in der Nasca-Region selbst, sondern vielmehr im Ica-Tal vollzogen hätte.

Während der archäologischen Prospektionsarbeiten des DAI von 1997 bis 2011 wurde jedoch eine unerwartet hohe Anzahl von Fundplätzen der Paracas-Kultur in der Region Palpa im nördlichen Einzugsbereich des Río Grande de Nasca entdeckt. Die Funde zeigten, dass die Paracas-Kultur nicht nur stark in dieser Region verwurzelt war, sondern dass sie dort auch unmittelbare Vorläufer hatte, die aus einer langen Lokaltradition hervorgegangen waren. Das Forschungsgebiet wurde daraufhin nach Osten, in die Bergregionen der Westkordillere der Anden, ausgedehnt. Und auch dort wurde eine große Anzahl weiterer bedeutender paracaszeitlicher Fundorte sowohl in den mittleren Talbereichen als auch in den Hochgebirgsregionen in Höhen von über 4000 m entdeckt. In Folge dieser Ergebnisse mussten die herkömmlichen Vorstellungen über den Siedlungsraum der Paracas-Kultur revidiert werden. Es stellte sich heraus, dass die Paracas-Kultur stark in der Nasca-Region verwurzelt war und in all ihren Entwicklungsphasen einen wichtigen Entwicklungspol in der Region Palpa hatte. Die bisher durchgeführten archäologischen Erkundungen konnten eine lange Tradition der Paracas-Kultur nachweisen, die ihre Wurzeln in der Initialzeit und sogar in noch früheren Kulturentwicklungen hat. Weiterhin wurde deutlich, dass die Paracas-Kultur keine reine Küstenkultur war, sondern dass sie sich über die gesamte Westseite der Anden, vom Pazifik bis zu den Gipfeln der Westkordillere der Anden erstreckte. Der Austausch von Wirtschaftsgütern zwischen den verschiedenen ökologischen Zonen scheint eine entscheidende Rolle für die Entwicklung dieser Kultur gespielt zu haben. Dies lässt sich an den unterschiedlichen Siedlungstypen von Küste und Hochland ablesen, die offenbar der Nutzung der Ressourcen der jeweiligen Höhenstufe dienten.

Somit konnte festgestellt werden, dass im Einzugsgebiet des Río Grande de Nasca und sogar im östlich angrenzenden Hochland durchaus eine flächendeckende Präsenz der Paracas-Kultur, insbesondere in ihren späten Facetten, zu verzeichnen ist. Hierdurch konnten neue Perspektiven für die Paracas-Forschung in der Region eröffnet werden.

Im Verlauf des Projektes werden seitens des DAI zwei Siedlungen der Paracas-Kultur untersucht, die stellvertretend für zwei Großregionen des Untersuchungsgebietes stehen: Collanco und Cutamalla. Auf einer Höhe von 1.700 m ü. M., am rechten Talrand des Rio Palpa, befindet sich die Siedlung Collanco. Dieser Fundort wurde als typische Siedlung mittlerer Höhenlage an der Westseite der Anden ausgewählt. Die Umgebung um Collanco ist geprägt von den tiefen, engen Tälern der Flüsse, die eine semiaride Landschaft mit schütterer Vegetation aus Sukkulenten und Dornbüschen durchqueren. Die Siedlung Collanco bedeckt eine Fläche von etwa einem Quadratkilometer, mit aus großen Granitblöcken gebauten Terrassen. Die meisten dieser Terrassen wurden offenbar landwirtschaftlich genutzt. Im zentralen Teil der Siedlung findet sich jedoch auch ein Kern aus Siedlungsbauten, offenen Plätzen und Gebäuden bisher unbekannter Funktion.

Der Fundort Cutamalla befindet sich auf einer Höhe von 3300 m ü. M. in der sogenannten Quechua-Zone, d. h. in der für den Ackerbau günstigsten Region des Hochlandes der Anden, die ein noch relativ mildes Klima und fruchtbare Böden aufweist. Im Gegensatz zu den ariden Tälern der Küste mit ihren starken Hangneigungen finden sich in der Quechua-Zone flachere Hänge oder sogar fast ebene Flächen, die für den Anbau genutzt werden konnten, wobei die reichhaltigen Niederschläge in der Regenzeit die Landwirtschaft zusätzlich begünstigten. Die Siedlung Cutamalla weist ein weit ausgedehnten System von Ackerbauterrassen auf, die sich über mehrere Quadratkilometer erstrecken und in deren Zentrum sich zwei Siedlungskerne befinden.

Alle obertägig sichtbaren Siedlungsbefunde an den beiden Fundorten und in deren Umgebung sollen während der Forschungsarbeiten registriert werden. Für die Dokumentation der Oberflächengestalt und der obertägig sichtbaren Architekturreste wird auch mit photogrammetrischen Methoden gearbeitet werden, die topographischen Daten werden abschließend in einem Plan oder in einem 3D-Modell dargestellt. Geophysikalische Prospektionen, vor allem Magnetometerprospektionen, sollen helfen, eine Vorstellung von der Grundstruktur der Siedlungen zu bekommen. Nach verschiedenen Testgrabungen sollen schließlich Flächengrabungen in beiden Fundorten durchgeführt werden, um die komplexen Beziehungen zwischen Architektur, Stratigraphie und Artefakten zu klären und so eine sichere Grundlage für die Interpretation sozioökonomischer und kultureller Aspekte der Paracas-Siedlungen zu erarbeiten.

Artefakte werden nach den standardisierten archäologischen Methoden untersucht und dokumentiert. Die Analyse von Pflanzenresten, Knochenfunden und Muscheln wird von Spezialisten in Peru durchgeführt werden, die über die notwendigen Vergleichssammlungen in Instituten in Lima verfügen. Diese archäobotanischen und archäozoologischen Analysen werden eine wichtige Grundlage sein zur Erschließung der landwirtschaftlichen Produktion, der Substistenzgrundlage und der Handelsbeziehungen der Paracas-Siedlungen.

Zum Verständnis der Paracaskultur auf der Grundlage neuer archäologischer Erkenntnisse ist es ebenfalls notwendig, die Keramikchronologie als wichtigstes Datierungsinstrument zu überarbeiten und dem aktuellen Forschungsstand anzupassen. Daher wird eine unabhängige Keramikanalyse durchgeführt werden, die auf der während der archäologischen Grabungen aus stratigrafischen Kontexten gewonnenen Keramik basiert.

Bisher haben sich nur wenige Untersuchungen der genauen Definition des kulturellen und politischen Raumes der Paracas-Kultur gewidmet. Ebenso wenig wurde die lokale Interaktion (zwischen verschiedenen Küstentälern) und die regionale Interaktion (zwischen Küste und Hochland) mit anderen Bevölkerungsgruppen des Andenraumes betrachtet. Die verschiedenen Arbeiten, die sich mit der Paracas-Kultur beschäftigten, beschränkten sich darauf, in Einzelstudien die materielle Kultur aus kunsthistorischer und technikgeschichtlicher Sicht zu analysieren.

Das zentrale archäologische Forschungsziel dieses Projekt ist es nun, durch siedlungsarchäologische Untersuchungen sowohl im Tal von Ica als auch in den Hochlandregionen der Täler von Palpa, den Siedlungs- und Wirtschaftsraum der Paracaskultur, einer der wichtigsten formativzeitlichen Kulturen des zentralen Andenraumes, neu zu definieren und die Grundlagen für eine Siedlungsarchäologie der Paracas-Kultur mit einer räumlich-geographischen Perspektive zu schaffen. Die Forschungsarbeit der französischen und der deutschen Forschergruppe an einem gemeinsamen Thema, jedoch an unterschiedlichen Orten (Küste und Hochland) wird diese regionale Perspektive ermöglichen. Die Befunde zur Raumnutzung durch die Paracas-Kultur, ihre Siedlungsmuster, die Architekturmerkmale und die Ergebnisse der Analyse von Funden aus den Siedlungen sollen die Grundlage für eine bessere Charakterisierung der Paracas-Kultur und die Rekonstruktion deren sozioökonomischer Struktur sein. Im Zentrum der Forschungen wird das Verständnis des geographischen Raumes sein, in dem sich Siedlungsspuren der Paracas-Kultur nachweisen lassen. Um die Dynamik der Nutzung dieses Siedlungsraumes zu verstehen, sollen die Siedlungsstrukturen auf drei Ebenen untersucht werden: der regionalen, der lokalen und der Ebene von Gebäudeeinheiten.