Industriearchitektur des 19. und 20. Jahrhunderts in Ägypten

Industriearchitektur © DAI Kairo // Ralph Bodenstein

Raum & Zeit

Die Industriearchitektur – im engeren Sinne Zweckbauten für die mechanisierte, industrielle (Massen-)Produktion und im weiteren Sinne auch die dazugehörigen Infrastrukturbauten – geht in Ägypten in ihren Anfängen auf die Herrschaftszeit des ambitionierten osmanischen Gouverneurs Muhammad Ali Pascha (reg. 1805-1848) zurück, der in der nationalen Geschichtsschreibung auch als der „Gründer des modernen Ägyptens“ gilt. Auf die Konsolidierung seiner Macht und die Erschließung der Ressourcen des Landes bedacht, gründete er eine moderne, nach europäischen Methoden ausgebildete Armee, führte den Anbau von Langfaser-Baumwolle im großen Stil als Exportgut und Einkommensquelle ein, errichtete eine staatliche Monopolwirtschaft, baute Landwirtschaft und Bewässerungssysteme aus und gründete zur unabhängigen Versorgung seiner Truppen zahlreiche Fabriken zur Produktion von Rüstungsgütern, Textilien und Bekleidung u.a.m. Zur Realisierung seiner Vorhaben beschäftigte er zahlreiche Fachkräfte und Ingenieure aus anderen Teilen des osmanischen Reiches, dem Mittelmeerraum und europäischen Ländern und importierte Knowhow, Maschinen und Rohstoffe. Andererseits entsandte er Nachwuchskräfte aus Ägypten zur Ausbildung nach Europa und richtete technische Schulen in Ägypten ein Diese erste Phase der industriellen Entwicklung Ägyptens – etwa zeitgleich mit der Frühindustrialisierung in Deutschland – hielt etwa zwei Jahrzehnte (1820er-1830er) an. Gewichtige strukturelle Unterschiede (Staatsmonopole, Staatseigentum und zentralisierte Verwaltung, Zwangsarbeit), die Tatsache, dass die Maschinen in den Fabriken oftmals durch Tiere angetrieben wurden und Dampfmaschinen nur selten zum Einsatz kamen, und dass viele Rohstoffe (v.a. auch Kohle) importiert werden mussten, haben die Frage aufgeworfen, ob man überhaupt von einer eigentlichen „Industrialisierung“ sprechen könne. Die Schließungen, Ausschlachtung und Verkauf der meisten Fabriken in der letzten Regierungsdekade von Muhammad Ali und unter seinem Nachfolger Abbas Pascha (reg. 1848-1854) markieren das Ende der ersten Phase der industriellen Entwicklung in Ägypten; sie trugen auch dazu bei, dass äußerst wenig bauliche Hinterlassenschaften aus dieser frühen Periode erhalten sind. Trotz dieses Bruches waren allerdings wichtige und nachhaltige Grundlagen für die weitere Entwicklung gelegt: Ägypten war nun in das Weltwirtschaftssystem und die globalen frühindustriellen Waren-, Kapital- und Knowhow-Ströme eingebunden (z.B. als ein Versorger der britischen Textilindustrien mit hochwertiger Baumwolle), es waren vielfache Kontakte zu Fachleuten, Ingenieuren und Unternehmen in Europa entstanden (insbesondere Frankreich und Großbritannien), und es gab nun einen Grundbestand an lokalen Facharbeitern, Technikern, Ingenieuren und Absolventen der Studienmissionen nach Europa bzw. der lokalen Ingenieurschule, die in künftigen industriellen Unternehmungen ein Rolle spielen konnten. Die Aufhebung der Staatsmonopole unter Saʿid Pascha (reg. 1854-1863) läutete eine neue Entwicklungsphase ein und brachte erstmals private Unternehmer, auch europäische Geschäftsleute, als neue Akteure ins Spiel, dies vor allem im lukrativen Baumwollgeschäft. Wichtige Entwicklungsimpulse gaben der Bau der Eisenbahn ab 1854 und des Suezkanals ab 1859; der Krimkrieg 1853-56 belebte die ägyptische Rüstungsproduktion; der amerikanische Bürgerkrieg 1861-65 ließ bekanntermaßen den ägyptischen Baumwollanbau und -export boomen. Besonders unter dem Khediven Ismail Pascha (reg. 1863-1879) entwickelten sich die Baumwollproduktion (fast gänzlich für den Export) und die Rohrzuckerproduktion (für Inlandskonsum und Export) zu hochtechnisierten Agroindustrien, mit entsprechenden Anlagen für die Verarbeitung – insbesondere Baumwoll-Egrenierwerke und Zuckerfabriken – sowie den zugehörigen Bewässerungs-, Transport- und Infrastrukturen. Dampfmaschinen, Dampfpumpen, Dampfpflüge, Dampflokomotiven wurden nun in großer Zahl importiert und eingesetzt; bei allen genannten Infrastruktur- und Industrieprojekten war die Beteiligung europäischer – v.a. britischer und französischer – Ingenieure, Maschinenbauunternehmen, Lieferanten und Monteure essentiell. Wichtigste Investoren in diesen kapitalintensiven Sektoren waren der Khedive und seine Familie als die beherrschenden Großgrundbesitzer (die ihren Landbesitz durch Enteignungen erweiterten und umfangreiche Kredite zur Finanzierung der Projekte aufnahmen), sowie ägyptische und ausländische Geschäftsleute (darunter viele Syrer, Griechen, Italiener u.a.m.). Die im weltweiten Vergleich sehr groß angelegten Projekte und großen Investitionsvolumen machten Ägypten zu einem äußerst attraktiven Markt, in dem sich nicht zuletzt zahlreiche global aktive Maschinenbauunternehmen aus Europa Konkurrenz beim Erwerb von Konzessionen und Aufträgen machten. Bezüglich des Industriebaus kann diese Phase kann als grundlegend für die Ausprägung charakteristischer Bautypen gelten, die weit in das 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit behielten – insbesondere in den Agroindustrien Baumwolle und Zucker.

Die Absetzung Ismail Paschas 1879 infolge der Schuldenkrise und die britische Besatzung Ägyptens ab 1882 drängten das Herrscherhaus als Akteur der industriellen Entwicklung in den Hintergrund. Privatunternehmen, ausländische Investoren und ägyptisch-ausländische Partnerschaften beherrschten nunmehr den immer noch bescheidenen industriellen Sektor, während über staatliche Institutionen der Ausbau von Bewässerungs-, Transport- und Versorgungsinfrastrukturen betrieben wurde. Obgleich den britischen Besatzern nur wenig Interesse an einer industriellen Entwicklung Ägyptens nachgesagt wird (zumindest in Bereichen, die ihren heimischen Industrien Konkurrenz machen könnten), so begannen im ausgehenden 19. Jahrhundert doch wichtige Diversifizierungsprozesse. Zusätzlich zur exportorientierten Baumwollproduktion (ein Kerninteresse der Briten) und der Rohrzuckerindustrie entwickelten sich weiterverarbeitende Industrien wie Zigarettenproduktion, Baustoff- und Zementproduktion, Düngemittelproduktion sowie die industrielle Produktion von Nahrungsmitteln, Ölen, Seifen, Textilien und Bekleidung – alle mit Ausnahme der Zigarettenindustrie bedienten den lokalen Markt. Aus dieser Zeit datieren signifikante, repräsentativ gestaltete Fabrikbauten, oft in historistischen Baustilen, bei denen die gestalterische Mitwirkung von Architekten – in der Regel ausländischer Herkunft – deutlich erkennbar wird (z.B. die Salvago-Egrenierwerke und ehemalige al-Ahram-Brauerei, s.u.). Der erste Weltkrieg brachte durch Versorgungsengpässe von Importgütern auf dem ägyptischen Markt entscheidende Impulse zum Anwachsen von lokalen Industrien für die Herstellung von Gütern des täglichen Bedarfs und Luxusgütern. Diese wirtschaftliche Dynamik erhielt nach Kriegsende mit der Unabhängigkeitsbewegung von 1919 eine politisch-nationalistische Komponente. Neue Finanzinstitutionen wie die Bank Miṣr (gegr. 1920) und eine industriefreundliche Wirtschaftspolitik unterstützten die Entwicklung lokaler, weiterverarbeitender Industrien und trugen zur Gründung bzw. dem Ausbau vieler Fabriken bei, darunter die großen Spinnerei- und Webereikomplexe in Alexandria, Mahalla al-Kubra und Kafr al-Dawar. Die beiden letztgenannten Städte können dabei auch als Beispiele der Ausbildung von Industriestädten gelten. In den 1930ern Jahre lässt sich der Übergang von historistischen zu betont modernistischen Architekturen im Industriebau beobachten, ebenso wie die zunehmende Rolle ägyptischer Architekten im Entwurf und Bau von Industriebauten. Nach der Revolution von 1952 wurde die liberale Wirtschaftspolitik der 1930er und 40er zunächst fortgesetzt; erst nach dem Suezkrieg von 1956 engagierte sich der Staat verstärkt selbst in der Wirtschaft, zuerst im Aufbau kapitalintensiver Schwerindustrien, und bald auch durch die Verstaatlichung zunächst ausländischer Unternehmen (bzw. solcher von Unternehmern nicht-ägyptischer Abstammung) und schließlich auch ägyptischer Unternehmen. Das erklärte Ziel, die Industrialisierung Ägyptens massiv voranzutreiben, wurde durch den Bau des neuen Assuanstaudamms (1960-64) zur Stromerzeugung und den Ausbau der Erdöl- und Gasförderung unterstützt. Auch aus dieser Zeit – das Ende des Untersuchungszeitraums des Surveys – lassen sich zahlreiche großangelegte Fabrikneubauten und -erweiterungen finden, und Industriegebiete wie die von Helwan, Madinat Nasr, Shubra al-Khayma und Imbaba entstanden oder wurden ausgebaut. Die ausgeprägt modernistische Formensprache im Industriebau fand ungebrochene Fortsetzung, wobei ägyptische Architekten, Ingenieure und Bauunternehmen nun die Hauptrolle übernahmen.