6. Wissenschaftliches Netzwerk "Bauwesen, Bauökonomie, Baustelle" (2020-2022)

Kanalisationsbauarbeiten unter Leitung des deutschen Ingenieurs Gerk in Fatih, Istanbul (1923) © DAI Istanbul // unbekannt

Forschung

Forschungsschwerpunkt

Obwohl seit der Sesshaftwerdung des Menschen dem Bauwesen eine enorme soziale und wirtschaftliche Bedeutung zugeschrieben werden muss, ist es als Phänomen von großer wirtschaftlicher, ökologischer und gesellschaftlicher Relevanz bisher nur wenig untersucht worden. Vielmehr richtet man das Interesse auf Teilaspekte des Bauens, wie Bauabläufe, Bautechniken, Rohstoffgewinnung, Architektur und Bauornamentik. Seine wirtschaftliche Bedeutung und sein Einfluss auf den Metabolismus von Gesellschaften wurden lange ausgeblendet. Dabei trugen Bauvorhaben wesentlich zum Verbrauch von Ressourcen und zum Einsatz von Arbeitskräften bei – unabhängig davon, ob es sich um herausragende Großprojekte oder kontinuierlich stattfindende Bautätigkeiten handelte.

Der zeitliche Ansatz des Netzwerkes soll von neolithischen Großbauten, wie wir sie etwa vom Göbekli Tepe kennen, bis zum Bauwesen im spätosmanischen Istanbul reichen. Darüber hinaus ist ein interdisziplinäres Vorgehen unter Einbeziehung von Archäologie, Bauforschung, Geographie, Geschichtswissenschaften und anderen Disziplinen erforderlich, um die verschiedenen Aspekte des Bauwesens und seine Auswirkungen in größeren Kontexten untersuchen zu können. Gerade Anatolien mit seinen vielfältigen kulturellen Traditionen und geographischen Voraussetzungen, zahlreichen intensiv untersuchten Fundplätzen und einer hohen sozioökonomischen Relevanz des Bauwesens bis in die Gegenwart hinein bietet ideale Voraussetzung für die diachrone und kulturvergleichende Auseinandersetzung mit dem anvisierten Thema.

Ein wesentlicher Aspekt des Bauwesens ist die Bauökonomie, denn Bauvorhaben waren mit Kosten verbunden und bedurften logistischer Anstrengungen. In den ökonomischen Bereich gehört auch die Ermittlung des Bauaufwands: Die Quantifizierung des mit der Errichtung eines Bauwerks verbundenen Aufwands in Geld, Arbeitsstunden oder Energieverbrauch ist während der vergangenen Jahre zu einem wichtigen Instrument der Vergleichbarkeit von Bauvorhaben geworden. Dabei hat die Bemessung des Bauaufwands nicht nur eine wirtschaftliche Dimension, sondern auch sozialökologische Implikationen.

Bauwesen und Bauökonomie finden ihren sichtbarsten Ausdruck im Bauvorgang und damit in der Baustelle. Während ihre Organisation Auskunft über den praktischen Vorgang des Bauens gibt, konnten Baustellen oder zumindest einzelne Elemente des Bauvorgangs als performative Akte gestaltet werden. Baustellen sind zudem prägende Faktoren in der Ausprägung individueller temporärer Physiognomien von Städten, zumal Großprojekte auch über mehrere Jahrzehnte dauern konnten.

Großes Erkenntnispotential birgt die Erforschung des Einflusses des Bauens auf die Umwelt, da Rohstoffgewinnung, Flächenverbrauch und der Bauvorgang selbst ganz erheblich in menschliche Lebensräume einschließlich des gestalteten Naturraums eingriffen. Die Quantifizierung der eingesetzten Ressourcen und Arbeitskraft für Errichtung und Unterhalt eines Bauwerks liefert konkrete Werte, die mit historischen Landschaftspotentialen in Beziehung gesetzt und in die Modellierung des sozialen Metabolismus einfließen können. Auf diese Weise könnten zukünftig Aussagen zur Nachhaltigkeit historischen Bauens getroffen werden.