Das nubische Dorf Bigge

Überreste nubischer Architektur auf Bigge © DAI Kairo // Christina Straße

Raum & Zeit

Nubien erstreckt sich entlang des Nils vom ersten Katarakt bei Assuan in Oberägypten bis hinein in den Sudan, zwischen dem dritten und vierten Katarakt. Die im Mittelpunkt der Untersuchungen stehende Insel Bigge ist Teil der südlichen Landschaft des ...
ersten Kataraktes und liegt etwa 1,5 km südlich des ersten Staudammes von Assuan. Südwestlich von Bigge liegt die Insel El Heseh, nördlich die kleinere Insel Agilkia, die seit den 1970er Jahren die translozierte Tempelanlage der überfluteten Insel Philae beherbergt. Das Gebiet von Aswan repräsentiert den nördlichsten Ausläufer eines ursprünglich ausgedehnten und komplex gegliederten Siedlungsraumes. Laut El Hakim umfasste Nubien 42 administrative Zonen bzw. Dorfbezirke, die sich auf beiden Nilufern in ausgedehnten Streifen entlang des Flusses erstreckten und eine Länge von bis zu 30 km erreichten. Die Geschichte der Nubischen Minorität in Ägypten wurde entscheidend durch die Folge immer ambitionierterer Staudammbauten bei Assuan bestimmt. Angelegt um den Bedarf Ägyptens an Wasser zur Bewässerung der Baumwollplantagen besser zu kontrollieren, resultierten sie letztlich in der Vernichtung des nubischen Siedlungsgebietes. Nach Plänen von Sir William Willcocks wurde zwischen 1898-1902 der erste Damm mit einer Stauhöhe von 106 m über dem Meeresspiegel errichtet, doch wurde das Stauniveau des Dammes schon 1907 bis 1912 um weitere sieben Meter erhöht. Die zweite Erhöhung des Dammes zwischen 1929 und 1934 bedeutete bereits die Flutung von Ägyptisch-Nubien bis weit nach Süden. Der Hochdamm von Assuan schließlich (errichtet 1960-1971) führte zur Aufstauung eines permanenten Reservoirs von über 600 km Länge bis tief in das Staatsgebiet des Sudan, was den endgültigen Untergang Nubiens bedeutete; der einstige Lebensraum der ägyptischen Nubier wurde nahezu vollständig ausgelöscht. Die meisten der alten Dörfer im ägyptischen Teil Nubiens wurden zwischen Oktober 1963 und Juni 1964 in neu gebaute Dörfer umgesiedelt, die nichts mehr mit den einstigen traditionellen Dörfern gemein hatten.
Die Bewohner der Insel Bigge waren durch ihre Ansiedlung auf der Kataraktinsel, die dem ersten Staudamm am nächsten gelegen war, besonders stark von den Auswirkungen des Dammbaus sowie von dessen zwei nachfolgenden Erhöhungen betroffen und hatten dreimal, jedes ...
Mal in größerem Umfang, ihre Häuser und Anbauflächen sowie alle Dattelpalmen verloren. Ihre Häuser errichteten die Bigge-Bewohner neu auf höher gelegenem Terrain, das vom Stauwasser nicht erreicht werden konnte. Die felsigen Kuppen der Insel, die zuvor kaum bebaut waren, boten sich dafür an. Bis heute erhalten blieben auf der Insel zwei Weiler, von denen der größere (Bigge) sich im Südosten der Insel erstreckt, während der kleinere (Balle) mit seinen etwa zwölf Gehöften im Nordwesten liegt. Ein kleines Plateau zwischen den beiden Siedlungen diente als Friedhof. Anders als die Nubische Bevölkerung im Gebiet südlich des Hochdamms, die in den 1960er Jahren als geschlossene Dorfgemeinschaften umgesiedelt wurde, blieben die Bewohner auf Bigge weiter in ihrem Dorf ansässig. Tatsächlich wurde Bigge erst um 1985 geräumt. Die Dorfgemeinschaft wurde auch nicht geschlossen an einen neuen Standort überführt. Stattdessen erhielten die Bewohner eine Kompensationszahlung, um sich einen neuen Wohnort in der Umgebung zu suchen. Tatsächlich blieben viele Familien im Assuaner Gebiet ansässig und können zu Befragungen aufgesucht werden. Seit der Räumung in den 1980er Jahren stehen die beiden Dörfer auf Bigge leer. Insbesondere das größere Dorf auf dem Ostufer der Insel bietet sich als ethnologisch-bauhistorischer Forschungsgegenstand von einzigartigem Interesse an. In diesem Dorf von rund 20 Einzelgehöften sind nicht nur die Baustrukturen hervorragend erhalten. Bei der Räumung des Dorfes wurden von den Bewohnern auch in großem Umfang Ausstattungsgegenstände und Hausrat zurückgelassen. Die verlassenen Dörfer auf Bigge stellen damit eine singuläre Quelle nicht nur für die Erforschung der traditionellen nubischen Architektur im Assuaner Gebiet dar. Sie sind vielmehr prädestiniert dazu, in einem kombiniert bauhistorischen, ethnologischen und ethno-archäologischen Zugriff bearbeitet zu werden. Hier ist es möglich, gleichermaßen vernakuläre Bauformen und Bautechniken sowie die damit assoziierten Nutzungsweisen und Lebensformen und das soziale Gefüge der einstigen Dorfgemeinschaft in ihrem Zusammenhang in einer dichten Rekonstruktion auszuarbeiten.