Lissos in Illyrien

Forschung

Dem konzeptionellen Ansatz des SPP 1209 »Die hellenistische Polis als Lebensform« der DFG entsprechend wurde davon ausgegangen, dass die deutlich veränderten politischen Rahmenbedingungen in fast dreihundert Jahren Auswirkungen auf das Stadtbild und die urbane Struktur hatten und Entwicklungen in der Organisation des öffentlichen, sakralen und privaten Raumes Rückschlüsse auf die sich wandelnden politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse zuließen. Darüber hinaus galt ein besonderes Augenmerk den spezifischen Prozessen der Hellenisierung und Romanisierung in dieser Region.

Betrachtet man die Städte des Illyrischen Reiches im Hellenismus, so muss ihre urbane Entwicklung als weitgehend unerforscht gelten. Im Vergleich zu den anderen illyrischen Städten, insbesondere der modern überformten ehemaligen illyrischen Hauptstadt Skodra in Albanien sowie Ulcinium in Montenegro, bot Lissos als eine in einer hellenisierten Region ›neu‹ entstandene Stadt in hervorragender Weise die Möglichkeit, die Funktionsweise dieser hellenistischen ›Polis‹ im Süden des Illyrischen Reiches in ihrer Abhängigkeit vom griechischen Kulturbereich zu untersuchen und ihre Entwicklung bis in die frühe Kaiserzeit nachzuverfolgen.

Die Grabungen zur hellenistischen Stadtentwicklung wurden im Jahre 2006 in dem unmittelbar unterhalb der Nord-Süd-Hauptstraße der Stadt gelegenen Grabungsbereich A und im Grabungsbereich C am sog. Hafentor begonnen (Abb. 3. 4); die geophysikalische Prospektion per Georadar hatte vor allem Hinweise auf die nachantike Besiedlung des Gebietes geliefert. Im Jahre 2007 wurde als weitere Referenzgrabung der Grabungsbereich D eingerichtet; ihm folgte, nachdem dort ein frühchristliches Baptisterium entdeckt worden war, ein Jahr später der Grabungsbereich E. Parallel dazu wurden in den Jahren 2006 bis 2009 Dokumentations- und Grabungstätigkeiten in der Oberstadt, auf den Terrassen M und O, durchgeführt.

Als besonders erfolgreich erwiesen sich die Sondagen im zentralen Grabungsbereich A mit drei deutlich voneinander trennbaren hellenistischen urbanen Phasen sowie der vor dem südlichen Haupttor gelegene Grabungsbereich B mit einer unerwarteten ‘extra-urbanen’ hellenistischen Bebauung. Aufgrund der Stärke und Komplexität der angetroffenen Kulturschichten – drei hellenistischen Hauptbauphasen – lag der Schwerpunkt auf einer diachronen Untersuchung des urbanen Wandels; von der Erfassung einer einzelnen Bebauungsphase auf großer Fläche musste abgesehen werden. Erfreulicherweise wurden die Grabungsarbeiten aufgrund sehr trockener Sommer nur in geringem Maße durch Grundwasser erschwert. In der letzten Projektphase (2010/2011) erfolgte dann eine Fokussierung auf die beiden Hauptgrabungsbereiche A und B.

Nachdem Cyriacus von Ancona bereits im Jahre 1436 die kleine an der Küste Dalmatiens gelegene Stadt Alessio/»Alexio« als das antike Lissos identifiziert, die eindrucksvollen Stadtmauern bewundert und eine heute verlorene Bauinschrift überliefert hatte, und das Städtchen Leš/Lezha und seine antiken Ruinen im 19. und frühen 20. Jh. von verschiedenen Forschungsreisenden, wie z. B. den Diplomaten Johann Georg von Hahn und Theodor A. Ippen, beschrieben worden war, begann die systematische archäologische Erforschung von Lissos mit den österreichischen Archäologen Camillo Praschniker und Arnold Schober, die während des 1. Weltkrieges im Jahre 1916 eine Forschungsreise in Nord-Albanien und Montenegro durchführten und zahlreiche antike Stätten und Denkmäler untersuchten. In ihrer bereits 1919 erschienenen Publikation legten sie einen ersten Stadtplan vor, diskutierten die Quellen, beschrieben detailliert die Stadtmauern von Lissos und stellten auch das von ihnen identifizierte Akrolissos vor sowie Teile einer heute nicht mehr greifbaren römischen Nekropole.

Die Erforschung von Lissos wurde dann Ende der 60er Jahre von den albanischen Archäologen Frano Prendi und Koço Zheku wieder aufgenommen, die ihr Hauptaugenmerk ebenfalls auf die eindrucksvollen Befestigungsanlagen von Lissos und Akrolissos legten .

Als im April 1979 bei einem sehr schweren Erdbeben der Stärke 7 das alte zentrale Viertel von Lezha schwer beschädigt wurde, begann man unmittelbar nach der Katastrophe mit dessen Abriss. Dabei wurde die zeitweise als Moschee genutzte Nikolauskirche freigelegt und im atheistischen kommunistischen Albanien mit einem Tempel-ähnlichen Schutzbau als Gedenkstätte für den ursprünglich dort begrabenen Nationalhelden Skanderbeg gestaltet. Die in den folgenden Jahren in der Unterstadt freigelegten Reste der hellenistischen Stadtmauer präsentierte man stolz als Reste der illyrischen Stadt Lissos in einer am Skanderbeg-Denkmal neu geschaffenen Parkanlage, was im kommunistischen Albanien, das die direkte Herleitung der Albaner von den Illyrern propagierte, durchaus auch eine politische Dimension hatte.

Erst im Jahre 2001 wurden die archäologischen Untersuchungen in Lissos mit einer kleineren Grabung unter der Leitung des albanischen Archäologen Gëzim Hoxha wieder begonnen und dann im Jahre 2004 zusammen mit einem österreichischen Team aus Graz unter der Leitung von Erwin Pochmarski und Manfred Lehner fortgesetzt.

Im Sommer 2006 begannen dann die deutsch-albanischen Ausgrabungen in Lissos.